Wie Social-Media-Filter helfen können, die Geschlechtsidentität zu entdecken

Bei TikTok, Instagram und anderswo werden seit langem Schönheitsfilter eingesetzt. Sie könnten auch Transmenschen helfen.

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(Bild: Gavin Lee Lewis)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Elizabeth Anne Brown

Schönheitsfilter in Social-Media-Anwendungen waren zunächst nur ein großer Spaß. Entweder sorgten sie für klaren Teint und besonders hübsche Augen oder sie ergänzten das Gesicht des Users um lustige Schlappohren, Sternchen oder eine besonders schicke Brille.

Inzwischen finden sich auch Transpersonen bei dem Thema wieder: Alle paar Monate bringt ein Social-Media-Gigant einen neuen Beauty-Filter mit geschlechtsspezifischen Funktionen heraus. TikToks "Bearded Cutie" etwa sorgt für dicke Augenbrauen und struppige Gesichtsbehaarung; die feminisierende Version von Snapchats "My Twin"-Linse glättet hingegen die Haut zu Porzellan und fügt dezentes Glam-Make-up hinzu. Für viele sind diese Filter ein Spaß, den sie schnell vergessen, sobald sie nicht mehr angesagt sind. Andere jedoch kehren immer wieder zu den Apps zurück und starren auf ihr plötzlich verändertes Spiegelbild. Sie haben das Gefühl, dass sich plötzlich etwas in ihrer Identität herauskristallisiert hat.

Oliver Haimson, Assistenzprofessor an der University of Michigan, der sich mit Transgender-Identität und deren Online-Erfahrung befasst, meint, dass solche Filter für Transmenschen, Gender-Nonconforming-Personen oder Gender-neugierige Menschen eine Möglichkeit sein können, mit ihrem Aussehen zu spielen. Dafür braucht niemand Make-up bei Transfrauen oder eine Hormontherapie, damit bei Transmännern das Barthaar wächst. Haimsons Meinung nach haben sich Schönheitsfilter zu einem wichtiges und weit verbreitetes Instrument zur Identitätserforschung entwickelt.

Einige Transmenschen schreiben Filtern zu, dass sie endlich "ihr Ei aufgeschlagen" haben – ein Initiationsritus in die Trans-Community, bei dem sich jemand eingesteht, dass seine Geschlechtsidentität anders ist als die, die ihm bei der Geburt zugewiesen wurde. "Der Snapchat-Mädchenfilter war für mich der letzte Strohhalm, ein Jahrzehnt der Selbstunterdrückung zu beenden", sagt etwa Josie, eine Transfrau Anfang 30 aus Cincinnati. "[Ich] sah etwas, das mehr nach 'mir' aussah als irgendetwas in einem Spiegel, und ich konnte nicht mehr zurück."

Filter können auch für eine dringend benötigte Dosis "Geschlechtseuphorie" sorgen, jenen Glücksrausch, den eine Trans-Person empfindet, wenn ihr äußeres Erscheinungsbild endlich mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt. Andere nutzen Filter, um sich einen Überblick zu verschaffen, wie eine Transition aussehen könnte. "Die Filter in FaceApp haben mir etwa gezeigt, wie wenig ich mein Gesicht verändern muss, um weiblicher zu wirken", sagt Etta Lanum, eine 32-Jährige aus der Gegend von Seattle. "Es hat mir gezeigt, wie allein eine Veränderung der Augenbrauen und der Gesichtsbehaarung mich dorthin bringen kann, wo ich sein möchte."

Die Verwendung dieser Filter hat aber auch ihre Tücken. Einige Trans-Personen haben das Gefühl, dass die Technologie ihnen auch Enttäuschung und Geschlechterdysphorie beschert, da sie Ergebnisse erzeugt, die selbst mit plastischer Chirurgie, kunstvollem Make-up oder Hormontherapie nicht zu erreichen sind. Aber wenn man bedenkt, dass ein immer größerer Prozentsatz unseres Lebens online gelebt wird – wer kann dann sagen, dass die Version aus dem Schönheitsfilter nicht die "echte" ist?

Elizabeth Anne Brown ist Wissenschaftsjournalistin und lebt in Kopenhagen, Dänemark.

(bsc)