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Wie die Nord-Stream-Pipelines repariert werden könnten

Chris Stokel-Walker​

(Bild: Frame Stock Footage / Shutterstock.com)

Noch ist nicht klar, wer die russischen Erdgas-Pipelines sabotiert hat. Eine Reparatur ist grundsätzlich möglich, wird aber schwierig und teuer.

Bis zum Einmarsch Russlands in die Ukraine war die Gaspipeline Nord Stream 1 ein wichtiger Bestandteil der europäischen Energieinfrastruktur. Im vierten Quartal 2021 lieferten die beiden Leitungen 18 Prozent der gesamten EU-Gasimporte. Die Hälfte der russischen Gasimporte nach Europa kam damals über Nord Stream 1 – ein Rekordwert.

Seitdem ist Nord Stream zu einem geopolitischen Spielball geworden [1]. Nord Stream 2, die zweite, parallel zu Nord Stream 1 verlaufende Doppelröhre, durfte trotz Fertigstellung nicht mehr ans Netz gehen – die Bundesregierung verweigerte die Zulassung. Und seit der Ukraine-Invasion nutzte Russland Nord Stream 1 mehr und mehr als Druckmittel gegen die von der EU verhängten Wirtschaftssanktionen.

Im Juli nahm Russland die Pipeline für planmäßige Wartungsarbeiten [2] vom Netz, ohne jedoch die volle Kapazität wiederherzustellen; im August erklärte das staatliche russische Energieunternehmen einen ungeplanten Ausfall. Schließlich kam gar kein Gas mehr. Ende September dann der Schock: Ein Sabotageakt, dessen Urheber noch immer nicht feststeht, verursachte vier Lecks in dem Unterwasserpipelinesystem.

Ist eine Reparatur, falls sie wünschenswert sein sollte, tatsächlich möglich? Das in der Schweiz ansässige Joint Venture hinter Nord Stream, das zu 51 Prozent dem staatlichen russischen Energiekonzern Gazprom gehört, ist sich nicht sicher, ob die Probleme jemals behoben werden können. Der Vorsitzende des parlamentarischen Energieausschusses Russlands, Pawel Zawalny, ist der Meinung, dass die Probleme in sechs Monaten behoben sein könnten – also erst nach dem Winter, in dem die Lieferungen am dringendsten benötigt werden.

Was wir bereits wissen, ist, dass jede Reparaturmission eine noch nie dagewesene Herausforderung für den Öl- und Gassektor bedeutet, die komplexe Robotik und andere einfallsreiche Technik erfordert. Noch wissen wir nicht einmal, wie schlimm die Situation tatsächlich ist. Klar ist bereits, dass die Schäden erheblich sind: Die Explosionen vom 26. September, die vermutlich zu den Pipelinebrüchen geführt haben, erreichten nach Angaben des schwedischen nationalen seismischen Netzes eine Stärke von 2,2 auf der Richterskala. Schwedische und dänische Ermittler, die bei der Untersuchung der Lecks federführend sind, weil sie sich im Seegebiet ihrer Länder ereigneten, haben erklärt, dass hier Explosionen erfolgten, die "mehreren hundert Kilo TNT" entsprechen. [3]

"Es handelt sich um massive Explosionen, die die Pipeline möglicherweise über eine größere Entfernung beschädigt haben, als wir bislang wissen", sagt Jilles van den Beukel, ein unabhängiger Energieanalyst, der 25 Jahre lang für Shell gearbeitet hat – zuletzt als leitender Geowissenschaftler. "Vielleicht befindet sich die Pipeline sogar nicht mehr in ihrer ursprünglichen Position."

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nannte den Vorfall eine "vorsätzliche Störung der aktiven europäischen Energieinfrastruktur". US-Präsident Joe Biden nannte die Explosionen einen "vorsätzlichen Sabotageakt". Während der Schuldige offensichtlich zu sein scheint, hält ein Sprecher des Kremls die Schuldzuweisung an die Russen hingegen für "vorhersehbar dumm".

Unabhängig davon, wer es getan hat, war es sicherlich Absicht, sagt van der Beukel. "Diese Pipelines brechen normalerweise nicht einfach zusammen", sagt er. Die stählernen Nord-Stream-Röhren sind selbst 4 Zentimeter dick und mit bis zu 11 Zentimeter Beton ummantelt. Jeder der rund 100.000 Abschnitte der Pipeline wiegt 24 Tonnen. "Solche Lecks kommen nur alle 100.000 Jahre vor", sagt der Experte. "Die einzige Möglichkeit, wie so etwas passieren kann, ist Sabotage".

Da die Pipeline in Anbetracht der geopolitischen Lage nicht in Betrieb war, sind die Auswirkungen auf die Umwelt relativ moderat – aber dennoch besorgniserregend. Schätzungen zufolge könnte die aus der Pipeline ausgetretene Methan-Menge zwischen 7,5 Millionen [4] und 14 Millionen Tonnen Kohlendioxidäquivalent [5] verursacht haben, wie das deutsche Umweltbundesamt und dänische Behörden gegenüber Journalisten sagten. Ein Sprecher von Gazprom erklärte auf einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats am 30. September, dass die Organisation davon ausgeht, dass die Pipelines zum Zeitpunkt des Auftretens der Lecks etwa 800 Millionen Kubikmeter Erdgas [6] enthielten, was die Menge des möglicherweise ausgetretenen Gases begrenzt. Erst wenn dies erfolgt ist, kann man Ermittler losschicken und prüfen, was die tatsächliche Situation ist.

Danach beginnt die schwierige Arbeit, die Havarie einzugrenzen und Lösungen zu finden. "Die Experten bewerten dann: Wie ist der Zustand der Leitung? Was sind die Schäden?", sagt Jean-François Ribet von der in Monaco ansässigen Öl- und Gaspipeline-Reparaturfirma 3X Engineering, die bereits Pipelines im Jemen repariert hat, die von Al-Qaida zerstört worden waren. Eine solche Bewertung kann mithilfe eines Inspektionsroboters, eines ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugs oder spezieller Taucher vorgenommen werden.

Die Entsendung von Tauchern ist aufgrund der Tiefe der Pipeline eine Herausforderung: Während die bekannten Lecks offenbar in relativ flachem Wasser – etwa 50 Meter tief – konzentriert sind, liegt der Großteil der Pipeline 80 bis 100 Meter unter Wasser. Und deren gesamte Leitung müsste auf mögliche Schäden untersucht werden.

"Wir haben schon Reparaturen in dieser Tiefe durchgeführt, aber dazu muss man das sogenannte Sättigungstauchen verwenden", sagt Olivier Marin, technischer Leiter bei 3X Engineering, der auch die Forschung bei der Firma steuert. Beim Sättigungstauchen, das in der Tiefsee zum Einsatz kommt, bleiben die Taucher in extremen Tiefen in einer speziellen Glocke und durchlaufen nach der Operation eine einzige Dekompression. "Man kann vielleicht 10 Stunden lang tauchen, aber man muss einen Monat lang in einer Überdruckkammer bleiben", sagt er.

Die Reparaturen selbst wären nicht einfach. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, sagt Ribet. Die erste besteht darin, die beschädigten Rohrabschnitte komplett zu ersetzen – das ist allerdings die teuerste Variante. "Man braucht den gleichen Durchmesser, die gleiche Stahlsorte und so weiter", sagt er. Außerdem muss man Schiffskräne vor Ort bringen, die stark genug sind, um die schweren, beschädigten Rohrsegmente aus dem Wasser zu heben und neue in die Tiefe zu bringen.

Die zweite Reparaturmöglichkeit besteht darin, eine Schelle zu installieren, die die beschädigten Rohrabschnitte abdeckt und die gerissenen Stellen im Wesentlichen ausbessert. Mit einem Innendurchmesser von 1,153 Metern würden die Nord-Stream-Pipelines jedoch riesige Schellen sowie die vorübergehende Installation eines Unterwasser-Caissons erfordern, einer wasserdichten Kammer, die den Pipelineabschnitt umschließt, damit die Ingenieure darin arbeiten können.

Marin hält dies für die einfachste Lösung. Er fügt jedoch hinzu, dass es Monate dauern würde, passende Schellen zu beschaffen, die groß genug sind, um die Pipeline zu umschließen. Diese Methode würde auch nicht funktionieren, wenn sich herausstellt, dass die Schäden zu groß sind – denn es ist nicht möglich, Schellen zu bauen, die besonders große Löcher überdecken.

Eine dritte Möglichkeit wäre eine kombinierte Reparatur, bei der die beiden Methoden miteinander kombiniert werden: die am stärksten beschädigten Elemente der Pipeline werden ersetzt und die weniger stark betroffenen mit Schellen versehen. Ribet schlägt eine vierte, möglicherweise weniger realistische Option vor: den Bau und die Installation eines neuen Pipelineabschnitts, der die beschädigten Abschnitte umgehen könnte, die wiederum an Ort und Stelle belassen würden. Russische Analysten weisen auch darauf hin, dass eine der vier Einzelpipelines von Nord Stream – ausgerechnet eine der beiden Nord-Stream-2-Röhren – nicht betroffen ist, sodass diese weiterhin Gas liefern könnte [7], wenn auch mit geringerem Druck. Gazprom ließ das Gas zunächst aus Sicherheitsgründen ab.

Eine weitere Frage lautet: Sind die Reparaturarbeiten überhaupt mit dem aktuellen Sanktionsregime vereinbar? Das Unternehmen, das die Nord-Stream-1-Pipeline betreibt, die Nord Stream AG, behauptet, ein von der Nord Stream 2 AG getrennt arbeitendes Unternehmen zu sein [8], das wiederum die Nord-Stream-2-Pipeline betreibt. Letztere Firma unterliegt internationalen Sanktionen, die nach dem Einmarsch in Russland verhängt wurden. Die Sanktionen werden wahrscheinlich die Reparatur der Pipeline verlangsamen, glaubt der russische Minister Zavalny [9] – und meint, dass es dadurch "schwierig" werden könne, Schiffe zu finden, die bereit sind, den Transport der Ausrüstung zu übernehmen.

[10]

Ein Sprecher der Nord Stream AG hat auf drei Anfragen von MIT Technology Review, wie das Unternehmen mit den Sanktionen umzugehen gedenkt, hingegen nicht geantwortet. Und selbst wenn die Reparaturen durchgeführt werden könnten, ist es unwahrscheinlich, dass Nord Stream die Gaslieferungen in nächster Zeit wieder aufnehmen kann. Denn ein wichtiger Faktor, der ebenfalls berücksichtigt werden muss, ist die Funktionsfähigkeit der Röhre.

Denn wenn das Gas durch ein Leck entweicht, strömt Wasser ein. Und das führt zu Korrosion. "Salzwasser in der Pipeline ist natürlich nicht gut", sagt Experte van den Beukel. Jetzt, da laut der dänischen Energieagentur kein Gas mehr aus der Pipeline entweicht, könnte versucht werden, die Löcher mit sogenannten Pigs zu stopfen – Geräten zur Pipeline-Inspektion, die eigentlich dazu dienen, die Röhre bei regelmäßigen Wartungen zu reinigen. Je schneller die Pigs zu den betroffenen Bereichen geschickt werden können, desto besser lassen sich die langfristigen Schäden begrenzen.

Wie auch immer die Lösung für Nord Stream 1 und 2 aussehen mag, sie wird schwierig und teuer. Auf die Frage, ob es jemals zuvor ein Unterwasserproblem dieses Ausmaßes gegeben habe, hat Pipeline-Experte van den Beukel eine klare Antwort: "Nein. Wenn man von Sabotage spricht, dann normalerweise an Land und in viel kleinerem Maßstab. Ich kann mich an nichts Vergleichbares erinnern."

(jle [11])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7283441

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/news/Nord-Stream-Gasaustritt-aus-Lecks-gestoppt-Ermittelt-Generalbundesanwalt-7282550.html
[2] https://www.heise.de/news/Nord-Stream-1-Erste-Gaslieferungen-fuer-Donnerstag-angekuendigt-7185054.html
[3] https://www.heise.de/news/Nord-Stream-1-und-2-Explosionen-mit-der-Sprengkraft-hunderter-Kilo-TNT-7281846.html
[4] https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/lecks-in-nord-stream-1-2-fuehren-zu-erheblichem
[5] https://www.berlingske.dk/danmark/live-gaslaekage-i-nord-stream-1-og-2
[6] https://tass.com/economy/1516373
[7] https://www.reuters.com/business/energy/single-line-nord-stream-2-can-still-export-gas-analysts-say-2022-09-28/
[8] https://www.nord-stream.com/press-info/press-releases/press-statement-523/
[9] https://tass.com/economy/1515185
[10] https://www.instagram.com/technologyreview_de/
[11] mailto:jle@heise.de