Wie ein Biocomputer aus Darmbakterien funktioniert

Genetisch veränderte Mikroorganismen arbeiten als verteiltes Rechnersystem. Sie können bereits den richtigen Weg durch ein Labyrinth finden.

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(Bild: Andrea Chronopoulos)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Siobhan Roberts
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Das Bakterium E. coli gedeiht nicht nur in unseren Eingeweiden, sondern sorgt manchmal auch dafür, dass Nahrungsmittel ungenießbar werden. Doch die Mikroorganismen sind auch für die Wissenschaft von großer Bedeutung – sei es nun in der Gentechnik, bei der Herstellung von Biokraftstoffen oder gar in der Impfstoffproduktion. Nun lernt das bakterielle Multitalent einen neuen Trick: Es ist in der Lage, ein klassisches Problem der Mathematik mit einer Art von verteiltem Rechnen lösen – den richtigen Weg in einem Labyrinth finden. Dabei werden verschiedene Arten gentechnisch veränderter Bakterien zusammengeschaltet. Das Kunststück ist ein Verdienst der synthetischen Biologie, deren Ziel es ist, eine Form biologischer Schaltkreise zu erschaffen und diese so einfach wie Computer zu programmieren.

Das Labyrinth-Experiment ist Teil einer vielversprechenden Entwicklung auf diesem Gebiet: Anstatt einen einzigen Zelltyp zu entwickeln, der die gesamte Arbeit erledigt, werden mehrere Zelltypen mit jeweils unterschiedlichen Funktionen entwickelt, um den Job zu erledigen. Im Zusammenspiel können die künstlich erschaffenen Mikroben in der Lage sein, zu "rechnen" und Probleme zu lösen – ähnlich wie multizelluläre Netzwerke in der Natur.

Bislang ist es der synthetischen Biologie nicht gelungen, die Gestaltungsmöglichkeiten der Natur voll auszuschöpfen – das ist frustrierend. Die Biologie sei dazu in der Lage – man denke nur an das Gehirn –, "doch wir wissen noch nicht, wie wir eine so hohe Komplexität erreichen können", sagt Pamela Silver, Biologin an der Harvard University. Die Studie mit E. coli als Minicomputer, die von dem Biophysiker Sangram Bagh am Saha Institute of Nuclear Physics in Kalkutta geleitet wurde, mag auf den ersten Blick wie ein Spiel wirken, doch es ist der grundlegende Beweis dafür, dass eine verteilte "Datenverarbeitung" zwischen Zellen mit den Methoden der synthetischen Biologie funktionieren kann. Komplexere praktische Rechenprobleme könnten sich auf ähnliche Weise lösen lassen. Wenn dieser Ansatz in größerem Maßstab funktioniert, könnte er Anwendungen in allen Bereichen von der Pharmazie über die Landwirtschaft bis hin zur Raumfahrt erschließen.

Um E. coli dazu zu bringen, das Labyrinthproblem zu lösen, war etwas Einfallsreichtum nötig. Die Bakterien wandern ja nicht durch ein Schlosslabyrinth aus gut geschnittenen Hecken. Vielmehr "analysieren" sie verschiedene Labyrinthkonfigurationen. Der Aufbau: ein Labyrinth pro Reagenzglas, wobei jedes Labyrinth durch ein anderes chemisches Gemisch erzeugt wurde. Die chemischen Rezepturen sind auf ein 2-mal-2-Gitter abstrahiert, das das Labyrinthproblem darstellt. Das linke obere Quadrat des Gitters ist der Anfang des Labyrinths, das rechte untere Quadrat ist das Ziel. Jedes Quadrat des Gitters kann entweder einen offenen Weg oder einen blockierten Weg zeigen, was 16 mögliche Labyrinthe ergibt.

Bagh und seine Kollegen übersetzten dieses Problem mathematisch in eine Tabelle, die aus Nullen und Einsen besteht und alle möglichen Labyrinthkonfigurationen zeigt. Dann ordneten sie diese Konfigurationen 16 verschiedenen Zusammenstellungen von vier Chemikalien zu. Die Anwesenheit oder Abwesenheit jeder Chemikalie entspricht der Frage, ob ein bestimmtes Feld im Labyrinth offen oder blockiert ist. Das Team entwickelte mehrere Gruppen von E. coli mit unterschiedlichen genetischen "Schaltkreisen", die diese Chemikalien aufspüren und analysieren. Zusammen funktioniert die gemischte Bakterienpopulation schließlich wie ein verteilter Computer; jeder der verschiedenen Zellsätze führt einen Teil der Berechnungen durch, verarbeitet die chemischen Informationen und löst dann das Labyrinth.

Bei der Durchführung des Experiments gaben die Forscher die E. coli zunächst in 16 Reagenzgläser, fügten in jedes eine andere chemische Mischung hinzu und ließen die Bakterien wachsen. Wenn die E. coli nach 48 Stunden keinen eindeutigen Weg durch das Labyrinth fanden – d. h., wenn die erforderlichen Chemikalien fehlten –, blieb das System "dunkel". War die richtige chemische Kombination vorhanden, gaben die Bakterien gemeinsam fluoreszierende Proteine in Gelb, Rot, Blau oder Rosa ab, um ihre Lösungswege anzuzeigen. "Wenn es eine Lösung gibt, leuchten die Bakterien", sagt Bagh.

Was Bagh besonders spannend fand, war, dass die E. coli beim Durchlaufen aller 16 Labyrinthe den physikalischen Beweis erbrachten, dass nur drei davon lösbar waren. "Es ist nicht einfach, dies mit einer mathematischen Gleichung zu berechnen", sagt er. "Mit diesem Experiment kann man es sehr einfach visualisieren." Bagh kann sich vorstellen, dass ein solcher biologischer Computer bei der Kryptografie oder der Steganografie (also dem Verstecken von Informationen in anderen Informationen) helfen könnte – dann, wenn hier Labyrinth-Algorithmen verwendet werden. Aber die Erkenntnisse der Studie gehen über diese Anwendungen hinaus und reichen bis zu den höheren Zielen der synthetischen Biologie.

Die Idee der synthetischen Biologie geht auf die 60er-Jahre zurück, doch wirklich konkret wurde die Arbeit auf diesem Gebiet im Jahr 2000 mit der Entwicklung synthetischer biologischer Schaltkreise, darunter Kippschalter und Oszillatoren. Die Systeme erlauben es, Zellen so zu programmieren, dass sie gewünschte Verbindungen produzieren oder intelligent auf ihre Umgebung reagieren. Die Natur hat sich jedoch nicht als besonders kooperativ erwiesen. Ein limitierender Faktor ist die Frage, wie viele Veränderungen man an einer Zelle vornehmen kann, ohne ihre Lebensfähigkeit zu (zer)stören.

Wird eine Zelle beispielsweise mit zu vielen Arbeitsschritten "überladen", besteht die Gefahr von Interferenzen und Überschneidungen, die die Leistung beeinträchtigen und die Fähigkeiten des Gesamtsystems einschränken. Bagh hätte den Algorithmus auch nur in einen Typ von E.-coli-Zellen einprogrammieren können. Das System funktioniere jedoch am besten, wenn die erforderlichen Funktionen auf sechs Zelltypen verteilt sind.

"Es gibt eine physikalische Grenze dafür, wie viele genetische Teile in einer einzigen Zelle verwendet werden können", sagt Karen Polizzi, Chemie-Ingenieurin am Imperial College London, die zelluläre Biosensoren zur Überwachung der Herstellung von therapeutischen Proteinen und Impfstoffen entwickelt. "Dies schränkt die Raffinesse der zu entwickelnden Konzepte bislang ein." Ein verteiltes "Rechnen" könne tatsächlich eine Möglichkeit sein, einige der wirklich hochgesteckten Ziele der synthetischen Biologie zu erreichen. "Denn es ist unmöglich, eine Zelle dazu zu bringen, eine komplexe Aufgabe komplett allein zu erledigen."

(bsc)