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Zeitmaschine fürs Klima

Rüdiger Braun

Die Hitze setzt Deutschland zu. Vergangenes Jahr haben wir berichtet, was der Klimawandel für Gewässer, Äcker und Wälder bedeutet. Aus aktuellem Anlass haben wir den Artikel aus dem Archiv geholt.

Wie könnte die Welt von morgen aussehen? Forscher testen, wie die globale Erwärmung das Leben auf der Erde verändern wird.

Tief und düster hängen die Wolken über dem norwegischen Raunefjord. Zwei junge Wissenschaftler beladen den Aluminiumkahn "Wassermann" mit Plastikbehältern, Netzen, Seilen, Wasserschöpfern und einer Probensonde. Sie können sich das Gähnen nicht verkneifen. Die Nacht war kurz. Bis in die frühen Morgenstunden haben sie gemeinsam mit ihren Kollegen Wasserproben analysiert. Denn irgendetwas stimmt nicht. Eines der wichtigsten Experimente in der neun Grad kalten Nordsee verläuft völlig anders als erwartet. Die Algenzusammensetzung in zahlreichen Wasserproben hat sich schlagartig verändert. Haben die Forscher einen Fehler gemacht? Droht der Versuch, in den so viel Zeit investiert wurde, zu scheitern?

Um das herauszufinden, müssen sie möglichst rasch zusätzliche Proben entnehmen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Kurz nach acht legen sie mit ihrem Motorboot ab. Keine zehn Minuten dauert die Fahrt zur Versuchsfläche. Hinter einer Insel öffnet sich der Blick auf acht eigenartige Geräte. Sie sehen aus, als würden kleine Gartenpavillons auf den Wellen schaukeln. Knapp drei Meter hoch und zwei Meter breit ragen sie aus dem Wasser. Unter einer mit dünnen Stacheln bewehrten Folienhaube – die Seevögel fernhalten soll – hängt jeweils ein riesiger geschlossener Plastiksack an einem Metallring zwischen sechs orangefarbenen Kunststoffsäulen.

TR 1/2017

(Bild: 

Technology Review 1/17 [1]

)

Dieser Artikel stammt aus dem Januar-Heft von Technology Review. Weitere Themen der Ausgabe:

Etwa 20 Meter reicht er in die Tiefe und ist mit alten Eisenbahnrädern auf dem etwa 50 Meter tiefen Meeresboden verankert. Rund 55000 Liter Salzwasser, mitsamt allen enthaltenen Organismen, wurden darin eingefangen und anschließend fest verschlossen. Sie sollen den Forschern verraten, was mit den Meeren passiert, wenn die Konzentration an Kohlendioxid in der Atmosphäre weiter steigt.

"Mesokosmen" nennen die Wissenschaftler ihre überdimensionalen Reagenzgefäße. Darin können sie mithilfe einer vielstrahligen Apparatur, der sogenannten Spinne, erhöhte Mengen Kohlendioxid ins Wasser einbringen und so einen Zustand simulieren, wie Klimamodelle ihn für die nächsten Jahrzehnte prognostizieren. Ein Team des Geomar Helmholtz-Zentrums aus Kiel hatte die Versuchsanlage im Frühjahr 2015 in der Nordsee bei Bergen für ein 50-tägiges Experiment installiert. 35 Tonnen Geräte und Material – Boote, Tauchausrüstung, Schutzanzüge, Experimentierstationen und eine Laborausstattung für 36 Mitarbeiter – mussten sie per Schiff in die norwegische Forschungsstation Espeland bringen. Davor schaukelten die Mesokosmen bereits in der Nord- und Ostsee sowie im Mittelmeer. Zurzeit schwimmen sie in tropischen Gefilden vor der Küste Perus.

So wollen die Wissenschaftler ein möglichst umfassendes Bild davon zeichnen, wie der Klimawandel die Ozeane verändert. Die Versuche sollen eine entscheidende Lücke schließen. Bislang beruhten die meisten Vorhersagen zu den Folgen des Klimawandels auf Computermodellen, Rekonstruktionen der Klimavergangenheit und Laborversuchen. Was fehlte, waren zuverlässige Aussagen über die Folgen für reale Ökosysteme. Was bedeutet ein Anstieg der Wassertemperatur für die Organismen?

Da Kohlendioxid sich zudem in Wasser löst und Kohlensäure bildet: Welche Effekte hat eine Übersäuerung der Meere auf die Lebewesen? Und jenseits des Ökosystems Meer: Welche Folgen haben längere Trockenperioden oder vermehrte Hitzewellen auf Waldgebiete oder landwirtschaftliche Flächen? Um diese Fragen zu beantworten, katapultieren sie Teile von Wäldern, Seen, Korallenriffen oder Ackerfluren praktisch in die Zukunft. Sie packen Waldböden unter Glasdächer, ganze Äcker in Folien – oder lassen riesige Reagenzgefäße im Meer oder in Süßwasserseen schwimmen.

Seit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist durch die Verbrennung von Öl, Kohle und Erdgas der CO2-Gehalt der Luft von 280 auf über 400 Millionstel Volumenanteile (ppm) gestiegen. Ein Großteil der Klimaforscher erwartet bis zum Ende des Jahrhunderts einen Anstieg auf bis zu 800 ppm, falls es der Menschheit nicht gelingt, in den nächsten 60 Jahren weitgehend aus der Nutzung fossiler Energieträger auszusteigen. Das würde bedeuten, dass die Durchschnittstemperatur der Erde um mehr als vier Grad anstiege und sich der Säuregehalt in den Meeren beinahe verdreifachte.

"Eines ist schon jetzt klar", sagt Ulf Riebesell, der die Geomar-Experimentierstation entwickelt hat und das Projekt leitet. "Egal wie hoch der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre in den nächsten Jahrzehnten noch steigen wird, die Meere werden deutlich saurer, weil die Ozeane immer mehr CO2 aufnehmen und damit der Kohlensäuregehalt steigt. Das wird die Lebensgemeinschaften massiv umkrempeln." Die Wissenschaftler sind vor allem deshalb so besorgt, weil sich dieser Wandel so schnell vollzieht wie vermutlich noch nie zuvor in der Erdgeschichte.

Raunefjord, Norwegen (60° 16' N/5° 13' O)

Wie überraschend die Folgen sein können, zeigt der unerwartete Verlauf des Experiments im Raunefjord. Die Wissenschaftler hatten in einigen Mesokosmen einzellige Mikrokalkalgen mit dem Namen Emiliania huxleyi freigesetzt, die zuvor im Kieler Labor über vier Jahre und 2500 Generationen hinweg an hohe CO2-Werte und höhere Temperaturen angepasst wurden. Dieses winzige, mit bloßem Auge kaum sichtbare Lebewesen ist die am weitesten verbreitete Kalkalgenart. Sie kommt von den Polargebieten bis zum Äquator vor und ist deshalb ein Schlüsselorganismus, um die Folgen der Ozeanversauerung einzuschätzen. Das "FreEhux" genannte Experiment sollte zeigen, ob sich die relativ CO2-resistenten Laborkulturen auch im Freiland behaupten können. Doch im Meerwasser mit einem angereicherten Kohlendioxidgehalt, wie er in der Nordsee bei starkem Klimawandel zu erwarten wäre, brach deren Population schlagartig zusammen. Im natürlichen Fjordwasser hingegen gedieh sie prächtig.

Die Wissenschaftler standen vor einem Rätsel. Viele Monate brauchten die Experten, um die Datenflut auszuwerten. Erst dann begriffen sie, was im Raunefjord vor sich gegangen war: Ein Fressfeind von Emiliania huxleyi, ein gallertartiges Manteltierchen, das wie eine winzige durchsichtige Kaulquappe aussieht, profitierte von den saureren Bedingungen. Es vermehrte sich innerhalb kürzester Zeit massenhaft und brachte die Algen zum Verschwinden. "Das sind schlechte Nachrichten", urteilt Ulf Riebesell. "Mikrokalkalgen wie Emiliania sind nicht nur eine wichtige Nahrungsquelle für viele andere Meeresbewohner, sie wirken auch erheblich dem Klimawandel entgegen."

Zum einen dient ihr Kalkgehäuse als Ballast für organisches Material und beschleunigt den Transport von Kohlendioxid in die Tiefen des Ozeans. Zum anderen sind sie eine Hauptquelle für das klimakühlende Gas Dimethylsulfid. Der Stoff verleiht dem Meer seinen typischen, leicht schwefeligen Geruch. Entweicht er in die Atmosphäre, bilden sich dort Sulfatteilchen. Sie dienen als Kondensationskeime für Wolken, die Schatten spenden und damit die Erderwärmung bremsen. Ein Rückgang dieser wichtigen Algen würde deshalb die Fieberkurve des Planeten noch schneller ansteigen lassen.

Das Schicksal von Emiliania droht auch vielen anderen Meeresorganismen, die sich mit Kalkgehäusen schützen oder mit Kalkskeletten stabilisieren. Neben Kalkalgen sind das vor allem Korallen, Muscheln, Seeigel, Seesterne und viele Schneckenarten. Untersuchungen australischer Ökologen zeigen, was vom Great Barrier Reef übrig bleiben könnte: nicht viel.

Ein Team um Ove Hoegh-Guldberg vom Global Change Institute der Universität von Queensland zeigte mit einem Mesokosmos-Experiment, dass bei Bedingungen, die einem starken Klimawandel entsprechen, nach einem Jahr fast alle Korallen in den Versuchsbecken abgestorben waren. Ein internationales Expertenteam, das kürzlich 630 wissenschaftliche Experimente zum Zustand der Weltmeere auswertete, kommt ebenfalls zu einem deprimierenden Ergebnis: Nur wenige Arten seien nicht von den negativen Auswirkungen der Ozeanversauerung und der Erwärmung betroffen. Am Ende dürften auch die Fischbestände darunter leiden und damit eine wichtige Nahrungsquelle für die Menschen.

Stechlinsee, Brandenburg (53° 9' N/13° 2' O)

Der glasklare Stechlinsee brachte schon vor 120 Jahren den Dichter Theodor Fontane zum Schwärmen. Bis heute hat sich das Gewässer, zumindest äußerlich, nur unwesentlich verändert. Noch immer ist es fast komplett von Bäumen umschlossen. 97 Prozent seines Wassereinzugsgebiets sind bewaldet. Die Vielfalt von mikroskopisch kleinen Algen und Planktontieren ist hier besonders hoch. Über 1000 Arten wurden in dem bis zu 70 Meter tiefen Gewässer nachgewiesen. Ideale Bedingungen also für das Seelabor des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB).

Seit 2012 steht in der Nähe des brandenburgischen Dörfchens Neuglobsow die weltweit größte Anlage, in der die Auswirkungen des Klimawandels auf Seen unter natürlichen Bedingungen untersucht werden.

Mit dem Ruderboot dauert es nur wenige Minuten vom Bootsanleger bis zu den Mesokosmen. 24 Versuchszylinder von je neun Meter Durchmesser gruppieren sich ringförmig um ein zentrales Wasserreservoir. Sie reichen bis ins Sediment in 20 Meter Tiefe. "Sie sind so etwas wie Seen im See", sagt der Leiter der Forschungseinrichtung, Mark Gessner. Die Zylinder sind umgeben von Schwimmkörpern, auf denen die gesamte Anlage begehbar ist. Durch am Seegrund verlegte Kabel ist die Anlage direkt mit dem Labor an Land verbunden. Auch Forschungspartner aus anderen Instituten sollen bald per Internet auf die Daten zugreifen können.

Die Wissenschaftler wollen herausfinden: Wie verändert sich die Schichtung der Seen durch eine Temperaturzunahme? Welche Auswirkung hat das auf die Artenzusammensetzung? Was passiert in Seen, wenn immer häufiger Stürme über sie hinwegtosen und Starkregen auf sie niederprasselt?

An einem Kran hängend taucht plötzlich aus einem der Becken ein Gerät auf, das aussieht wie ein U-Boot – ein vollautomatisches Messsystem, etwa so groß wie ein Handfeuerlöscher. In verschiedenen Wassertiefen registriert es kontinuierlich eine Vielzahl von Daten wie Temperatur, Sauerstoffgehalt, Lichtintensität, elektrische Leitfähigkeit und Chlorophyllgehalt, der Rückschlüsse auf die Dichte und Art der vorhandenen Algen liefert.

In einigen der Bassins wirbeln spezielle Pumpen und Düsen die natürliche Temperaturschichtung des Wassers durcheinander und bringen warmes Oberflächenwasser in die Tiefe. Sie ahmen ziemlich exakt die Verhältnisse nach, die ein Sommersturm verursacht. In andere schütten sie kanisterweise Nährstoffe oder eine dunkelbraune, lichtschluckende Brühe. "Damit imitieren wir im Kleinen, wie bei einem Wolkenbruch organische Substanzen in den See gespült werden", erklärt Mark Gessner. "Derartige Zustände erwarten wir aufgrund des Klimawandels zunehmend in den nächsten Jahren. So können wir ein Stück weit in die Zukunft unserer Seen schauen."

Erste Einblicke zeigen, dass Extremwetter die Lebensgemeinschaft im Stechlinsee über mehrere Wochen vollkommen umkrempeln kann. Vor allem Cyanobakterien und einige Algenarten entwickelten sich sprunghaft im Oberflächenwasser und veränderten erheblich den normalen Stoffkreislauf. Eine Häufung solcher Ereignisse könnte dazu führen, dass sich die Regenerationsfähigkeit des Sees verringert und die eingespielte Lebensgemeinschaft aus dem Gleichgewicht gerät. Was den Ökologen aber am meisten beunruhigt, ist die Vielzahl der Umweltfaktoren, die der Klimawandel verändert.

Besonders problematisch sei das sich kontinuierlich erwärmende Oberflächenwasser. In den vergangenen 50 Jahren stieg seine Durchschnittstemperatur um 1,8 Grad Celsius. Falls sich dieser Trend fortsetzt, würde der Ruderfußkrebs, der seit der Eiszeit hier überdauert hat und auf kaltes, sauerstoffreiches Wasser angewiesen ist, aus dem Stechlinsee verschwinden – und vermutlich auch ein Fisch, den es nur hier gibt: die Fontanemaräne.

Bad Lauchstädt, Sachsen-Anhalt (51° 23' N/13° 2' O)

Aus der Luft wirkt die Versuchsstation wie eine Aneinanderreihung von Stahlgerüsten und geräumigen Foliengewächshäusern. Jedes so hoch, dass ein Traktor darunter fahren kann. Die Global Change Experimental Facility (GCEF) des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung umfasst 50 Parzellen – jede etwas größer als ein Tennisfeld. Die Hälfte ist mit beweglichen Foliendächern und -wänden ausgestattet, die sich über einen zentralen Rechner auf- und zusammenrollen lassen, um damit lokale Klimamanipulationen durchzuführen. Vor gut einem Jahr ging die Anlage in Bad Lauchstädt bei Halle in Betrieb.

Sie ist eine der größten und komplexesten, um die Folgen des Klimawandels auf landwirtschaftliche Flächen zu untersuchen. Fünf Landnutzungstypen analysieren die Forscher: konventionellen Ackerbau mit einer regionaltypischen Kulturfolge von Raps, Weizen und Wintergerste, biologischen Getreideanbau, intensive Nutzung von fünf Futtergräsern sowie extensive Kultivierung von über 50 verschiedenen Wiesenpflanzen durch Mahd und durch Weidewirtschaft mit einer kleinen Schafherde.

"Diese Flächen werden teilweise extremen Klimabedingungen ausgesetzt, wie wir diese gegen Ende des Jahrhunderts erwarten", erklärt der wissenschaftliche Koordinator Martin Schädler. Die Forscher simulieren dabei vor allem zwei Phänomene: eine erhöhte Durchschnittstemperatur sowie veränderte Niederschlagsmuster und Trockenphasen. "Mit den mobilen Dächern und Seitenteilen können wir Niederschläge zu bestimmten Zeiten abfangen, mithilfe einer Beregnungsanlage später aber auch wieder künstlich hinzufügen", erklärt Schädler. Insgesamt 15 Jahre soll das Großprojekt dauern. Die Wissenschaftler erhoffen sich davon Hinweise auf Landnutzungsmethoden, mit denen eine Anpassung an den Klimawandel möglich ist.

Klimaforscher, Landwirte und Politiker warten ungeduldig auf solche Resultate. Denn viele bereits durchgeführte Untersuchungen weisen darauf hin, dass zunehmende Hitze und längere Dürreperioden die landwirtschaftlichen Erträge weltweit deutlich verringern könnten. Laut einer aktuellen Übersichtsstudie im Fachjournal "Nature" geht in überdurchschnittlich heißen und trockenen Jahren in den betroffenen Regionen die Getreideernte im Schnitt um bis zu zehn Prozent zurück. Die Wissenschaftler hatten rund 2800 Extremwetterereignisse der vergangenen fünf Jahrzehnte in allen Teilen der Welt untersucht. In reicheren Ländern mit großflächigen Monokulturen sind die Einbußen sogar stärker als in armen Ländern mit kleinteiligeren, weniger intensiv bewirtschafteten Agrarflächen. Gelingt es nicht, dem entgegenzuwirken, wären das schlechte Aussichten angesichts des stetig steigenden Lebensmittelbedarfs einer wachsenden Weltbevölkerung.

Freising, Bayern (48° 25' N/11° 39' O)

Das Waldlabor Kranzberg, eine der ersten Freiluftversuchsanlagen für Waldökosysteme, ist schon von Weitem zu erkennen: Ein knapp 50 Meter hoher, dunkelgrüner Kran ragt aus einer Waldparzelle in der Nähe von Freising. Vor Ort, zwischen bis zu 70 Jahre alten Buchen und Fichten, ist dieser kaum noch zu sehen. Dafür stechen sechs Plexiglasdächer ins Auge – jeweils 20 Meter lang und vier Meter hoch. Es sieht aus, als wären einige Stämme mitten durch die Dächer von Treibhäusern gewachsen, denen die Seitenwände fehlen. Dazwischen hängen Gestelle mit blauen Plastiksäcken zum Auffangen des herabfallenden Laubs. In das leise Rauschen der Blätter mischt sich das sonore Brummen eines Druckluftgenerators, das Surren von Computern und das Klickern von Datenschreibern.

Entlang schmaler Holzstege führen dicke Kabelbündel zu den Dächern und zu zahlreichen Bäumen. Aus dem Kronendach hängen an einigen Stellen dünne, durchsichtige Plastikschläuche herab wie Lianen. Das "Gehirn", bei dem alles zusammenläuft, ist ein mit Technik vollgepackter grüner Bauwagen. "Unser Mission Control Center", sagt Rainer Matyssek schmunzelnd. Hightech trifft auf Waldidylle. "Weil es unmöglich ist, ausgewachsene lebende Altbäume ins Labor zu bringen, bringen wir das Labor eben zu ihnen", erklärt der 62-jährige Ökologe, der sich die aufwendige Vermessung des Waldes zusammen mit dem Forstwissenschaftler Hans Pretzsch ausgedacht hat.

Die einen halben Hektar große Versuchsfläche im Kranzberger Forst betreibt die TU München zusammen mit dem Helmholtz-Zentrum München. Seit drei Jahren dreht sich dort alles um das Thema Trockenstress. Denn die meisten Klimaprognosen sagen auch für Mitteleuropa bis zum Ende des Jahrhunderts eine deutliche Zunahme von Extremwetterlagen voraus – heftige Gewitter und Wolkenbrüche ebenso wie längere und intensivere Dürreperioden. "Wir müssen verstehen, was genau in den Bäumen vorgeht, wenn sie unter Wassermangel leiden", erklärt Matyssek.

Die Dächer, die sich vollautomatisch schließen, sobald es zu regnen beginnt, sowie ein ausgeklügeltes System zur Wasserableitung sorgen im Waldlabor für künstliche Trockenheit. "Wir wollen die Bäume unter den Dächern an den Rand des Absterbens bringen. Lassen sie dann aber natürlich nicht eingehen. Das könnten wir gar nicht ertragen. Außerdem wollen wir ja sehen, wie und wie rasch sie sich wieder regenerieren."

32 Bäume sind mit Messgeräten verkabelt wie Patienten auf einer Intensivstation. Mit Spezialkameras filmen die Forscher das Wurzelwachstum. Messfühler kontrollieren die Temperatur im Stamm. Saftfluss-Sensoren melden, ob die kleinen Spaltöffnungen der Blätter gerade geöffnet oder geschlossen sind und messen exakt die Menge, die der Baum jeden Tag ausdünstet. Dendrometer registrieren, wie stark ein Stamm nachts anschwillt und tagsüber wieder schrumpft – wie der Baum also verdaut. Maßbänder zeigen an, wie viel Umfang er innerhalb eines Jahres zulegt. Mit Gaswechselmessern dokumentieren die Forscher, was und wie viel der Stamm ausatmet. Rund 20 Wissenschaftler und Techniker kümmern sich abwechselnd fast rund um die Uhr um die Anlage.

Mit einer schmalen roten Gondel fährt Michael Goisser am Kranarm hinauf über die Baumwipfel. Von hier oben in 45 Meter Höhe ist die Struktur des Kranzberger Forsts gut zu erkennen: Kleine Inseln von Buchen und Fichten bilden ein dichtes Patchwork-Muster. Mithilfe einer Fernsteuerung kann er über 100 Bäume punktgenau und in beliebiger Höhe ansteuern. Im Kronenbereich einer Buche befestigt der Forstwissenschaftler eine aufklappbare Plexiglasröhre, die über einen dünnen Schlauch mit dem Druckluftgenerator am Boden verbunden ist. Vorsichtig verschließt er die Küvette, sodass von außen keine Luft mehr an die Blätter dringen kann. Nun werden sie nur noch mit einem speziellen Luftgemisch von unten umspült. Es enthält nichtradioaktive Kohlenstoffisotope. Diese bauen die Bäume in ihre Zuckermoleküle ein, die Forscher können sie nun als Marker nutzen. "So können wir feststellen, wie schnell der Zucker wandert, der bei der Photosynthese hier in den Blättern entsteht", erklärt Goisser.

Das Kranzberger Roof-Experiment ist auf insgesamt zehn Jahre angelegt. Aber schon jetzt liegen erste Ergebnisse vor. "Die Buche ist eher ein Draufgänger", fasst Goisser zusammen. "Sie hält auch bei Trockenheit ihre Spaltöffnungen relativ weit offen, transpiriert Wasser, nimmt Kohlendioxid auf und betreibt Photosynthese." Dabei läuft sie aber Gefahr, dass oben mehr verdunstet als unten nachkommt. In diesem Fall reißen die Wasserfäden ab, in den Wasserleitungsgefäßen bilden sich Luftblasen.

Wie beim Menschen auch heißen sie Embolien. "Bei extremem Wassermangel verdurstet der Baum daher regelrecht", sagt Goisser. Fichten hingegen schließen bei Trockenstress ihre Spaltöffnungen und gehen in einen Ruhezustand. Sie können dann allerdings auch kein CO2 mehr aufnehmen, das der Ausgangsstoff für die Zuckergewinnung ist. Die Nadelbäume "hungern" also bei Dürre, werden immer schwächer und krankheitsanfälliger.

Die Wissenschaftler beobachteten aber auch, dass Buchen und Fichten im Mischbestand voneinander profitieren und sich gegenseitig stabilisieren. Sie wachsen schneller und können wesentlich besser mit längeren Trockenperioden umgehen. Wie das im Einzelnen funktioniert, wollen die Kranzberger Forscher in den nächsten Jahren herausfinden. Mit diesem Wissen sollen Forstwirte dann den Auswirkungen des Klimawandels gegensteuern können – etwa indem sie die Mischung von unterschiedlichen Baumarten optimieren. Michael Goisser ist überzeugt: "Durch ein kluges Kombinieren von Baumarten lassen sich die Auswirkungen von Trockenstress verringern. Fichtenmonokulturen werden im Zuge des Klimawandels in Deutschland weitgehend verschwinden."

Natürlich behandeln Forscher damit nur die Symptome. Besser wäre es, den Klimawandel zu stoppen, als sich mit neuen Baummischungen und anderen landwirtschaftlichen Anbaumethoden auf ihn vorzubereiten. Aber es könnte sein, dass uns gar keine andere Wahl bleibt. (bsc [7])


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