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"Wir lesen die Zukunft"

Stefan Brunn

Die Phantastische Bibliothek Wetzlar besitzt die weltweit größte Sammlung von Science-Fiction-Literatur. Ihr Leiter Thomas Le Blanc will diesen Schatz systematisch nach Ideen für neue Technologien und Produkte durchkämmen.

Die Phantastische Bibliothek Wetzlar besitzt die weltweit größte Sammlung von Science-Fiction-Literatur. Ihr Leiter Thomas Le Blanc will diesen Schatz systematisch nach Ideen für neue Technologien und Produkte durchkämmen.

Was anderen visionär vorkommt, ist für Thomas Le Blanc meist ein alter Hut. Als im letzten Jahr zum ersten Mal elektronisch gekoppelte Autos auf einer normalen Autobahn fuhren und alle Welt vom ferngesteuerten Autokonvoi schwärmte, dachte sich Le Blanc: "Das hat doch John Jakes schon 1973 bis in alle Details beschrieben!" So wie bei dieser Idee des Romans "On Wheels" kennt Le Blanc technische Innovationen oft schon aus irgendeinem alten Schinken. Schließlich ist in seinem Spezialgebiet, der Science-Fiction, selten etwas nicht vorausgedacht worden, was nachher in unserem Alltag landete.

Le Blanc ist so etwas wie der Gralshüter der Science-Fiction: Seine öffentliche Bibliothek im beschaulichen Wetzlar in Mittelhessen gilt als weltweit größte Sammlung phantastischer Literatur. Wer das schöne Haus in der Turmstraße zum ersten Mal betritt, wähnt sich allerdings eher in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts als in der Zukunft. Die Villenarchitektur, das dunkle Holz und die gut gedämpfte Akustik versetzen den Besucher in die Atmosphäre einer netten, von kommunalen Sparkommissaren vergessenen Kleinstadtbücherei – die üblichen lichtgrauen Büromöbel heutiger Billigbibliotheken findet man hier genauso wenig wie reihenweise Terminals mit Flachbildschirmen. Von automatischen Ausleihverbuchungsrollbändern ganz zu schweigen: Hier gehen bloß ein paar Menschen aus Fleisch und Blut hinter einer rustikalen Ausleihtheke flüsternd ihrem Werk nach.

Le Blancs Bibliothek steht für die Botschaft: Der wahre Bücherfreund braucht kein cooles Design, er braucht Bücher. Und davon stehen hier Hunderttausende. Le Blancs Mannschaft dürfte so ziemlich alles archiviert haben, was sich Science-Fiction-Autoren jemals ausgedacht haben. Genau diesen alten Schatz möchte Thomas Le Blanc auf eine neuartige und viel systematischere Weise heben als jemals geschehen: Er lässt Tausende von Texten daraufhin prüfen, ob sich darin Ideen für neue Technologien und Produkte befinden. Aus der Literatur von gestern will er das herausfiltern, was in den nächsten 20 bis 50 Jahren eine bahnbrechende Erfindung werden könnte.

"Future Life – We read the future" hat Le Blanc sein Projekt überschrieben. Darin lässt er die Science-Fiction-Literatur nicht pauschal nach allen Ideen durchforsten, die überhaupt je aufgeschrieben wurden – das wäre nicht zu stemmen. Stattdessen sucht er sich für bestimmte Projektpartner einzelne Sachgebiete heraus. Für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) etwa hat Le Blanc schon vor Jahren einen Themenkomplex "Verkehrssysteme der Zukunft" beackert. Le Blancs Team filterte für das DLR insgesamt 150 interessante Ideen heraus. Darunter waren solche Dauerbrenner wie ein "Fahrstuhl zu den Sternen", aber auch recht praktikable Dinge wie ein Martinshorn via Autoradio oder ein vollautomatischer Kofferkuli. Letzteren hatte der britische Autor John Brunner 1975 in seinem Roman "Der Schockwellenreiter" für Flughäfen erdacht. Realisiert wurde er bisher zwar an keinem einzigen Airport, aber immerhin in ganz ähnlicher Form für Golfplätze: Auf über einem Dutzend Greens in Deutschland kann man sich seine Golftasche so roboterhaft hinterherfahren lassen, wie sich das der Schriftsteller seinerzeit für den Urlaubskoffer ausgemalt hatte. "Ich glaube aber nicht, dass dieser Golfcaddy auf den Roman zurückgeht, so eine Erfindung war ganz einfach plausibel", meint Le Blanc.

Manche Erfindungen liegen aber eben nicht in der Luft, sondern sind versteckt in der Literatur von gestern. Deshalb will Le Blanc demnächst seinen zweiten großen "Future Life"-Ballon starten, dieses Mal zur Kommunikation der Zukunft. Das ambitionierte Ziel ist die Erfassung aller literarischen Kommunikations-Innovationen. Die daraus resultierende Dokumentation könne für den Think-Tank eines Unternehmens sehr wertvoll sein, glaubt Le Blanc. Oder zum Beispiel für PR-Strategen bei der Markteinführung neuer Produkte. Le Blanc hat einen deutschen Konzern aus der Elektrobranche für sein Projekt begeistern können und will in Kürze mit diesem einen Vertrag schließen. "Die Verhandlungen ziehen sich ein bisschen hin", gibt der Institutsleiter zu. Immerhin gehe es um eine sechsstellige Summe, die auch ein weltweit agierendes Unternehmen nicht aus der Portokasse bezahle.

Das Potenzial der Literatur, technische Möglichkeiten und Entwicklungen vorauszuahnen, hält Thomas Le Blanc für immens: Fast alles, was wir heute an Technik nutzen, sei schon lange vor der eigentlichen Erfindung literarisch formuliert worden, das Internet etwa oder das Handy oder geostationäre Satelliten. Letztere sind das wohl berühmteste Beispiel für technische Erfindungen aus dem Reich der Literatur: Dass ein Satellit sich synchron zur Erde bewegt, wurde erstmals 1963 Wirklichkeit – 18 Jahre nachdem der britische Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke das Prinzip erstmals beschrieben hatte. Noch unvorstellbarer erscheint uns heute, dass ein deutscher Science-Fiction-Bestsellerautor namens Hans Dominik seinen Lesern schon 1930 ausmalte, wie dereinst riesige Solaranlagen in der Sahara "die Sonnenstrahlen in Form von Elektrizität einfangen und in das energiehungrige Europa schicken".

Trotz solcher Punktlandungen – seinen Auftraggebern wird Le Blanc ihr Investment wohl nicht in konkreten literarischen Modellen für Geräte zurückzahlen, die man sofort in Serie produzieren kann. "Das haben wir damals auch nicht erwartet", sagt Professorin Barbara Lenz, die beim DLR das Institut für Verkehrsforschung leitet und mit "Future Life" befasst war. "Das Projekt hat für uns einen anderen Zweck erfüllt: abzugleichen, wie sich die literarischen Visionen und unsere heutige Wirklichkeit ähneln." Im Ergebnis sei es für sie und ihre Kollegen zum Beispiel überraschend gewesen, dass die Schriftsteller bei ihren Schilderungen doch sehr im Rahmen des Möglichen geblieben sind – sie ersannen also kaum Kabinen, mit denen man sich von Ort zu Ort beamen kann. Sondern eher Dinge, die sich irgendwann tatsächlich realisieren ließen. Bei ähnlichen Projekten würde sie künftig allerdings einen anderen Schwerpunkt wählen, schränkt Lenz ein: Statt auf Texte würde sie stärker auf Gemälde, Skizzen und Filme mit Zukunftsvisionen setzen.

Für Le Blanc ist der wichtigste Aspekt seiner Analyse, den Umgang des Menschen mit einer neuartigen Technik frühzeitig erahnbar zu machen – zum Beispiel in der Medizintechnik: Auch die Gesellschaft wird sich nämlich verändern, wenn Menschen sich klonen können oder ihre Gehirne mit künstlicher Intelligenz verbinden. Überlegungen wie diese sind der herkömmlichen Zukunftsforschung weitgehend fremd – weil sie zu spekulativ sind, scheinbar zu weit in die Ferne greifen. Aber genau das, so Le Blanc, habe die Science-Fiction-Literatur der empirischen Zukunftsforschung und der Trendforschung voraus. Von dieser hält Le Blanc ohnehin nicht viel: "Das ist zum großen Teil einfach Scharlatanerie. Den Club of Rome nehme ich da mal aus."

Die Methode der Schriftsteller sei aber mit solchen Vorhersagen nicht vergleichbar: Schriftsteller würden auf Wahrscheinlichkeiten keinen Wert legen, sondern heutiges Wissen ganz einseitig extrapolieren. "Die Science-Fiction sagt nicht die Zukunft voraus, sondern sie malt sie aus, und zwar in vielen Versionen", sagt Le Blanc. Heraus komme ein kreatives Spiel mit den Möglichkeiten. Etwa mit holografischen Nachbildungen von Menschen, wie sie "Star-Trek"-Fans vom "Holodoc" kennen: Was wäre eigentlich, wenn eine Kopie eines Arztes sich einfach an jeden beliebigen Ort beamen könnte und das medizinische Wissen von 3000 Kulturen und 50 Chirurgen vereinen würde? "Es könnte bei Konferenzen dann ganz andere Gesprächsformen geben, man könnte den größten Blödmann ganz einfach wegklicken. All das würde eben auch soziale Folgen haben – und die kann ein Schriftsteller viel besser aufzeigen als jede Studie."

Thomas Le Blanc war früher Science-Fiction-Fan und hat auch selbst einige Werke verfasst. Wie viele andere Autoren hat er einen naturwissenschaftlichen Hintergrund: ein Lehramtsstudium der Mathematik, Physik und Pädagogik. Schon während seines Studiums hatte er mit dem Schreiben begonnen – sowohl eigener Erzählungen als auch von Artikeln in der Publikumspresse über die phantastische Literatur. "Das galt in meiner Kindheit, als ich mir von meinem Taschengeld die ersten Science-Fiction-Bücher gekauft habe, noch als Trivialliteratur", erzählt der heute 61-Jährige. Durch seine Leidenschaft rutschte er ins Verlagsgeschäft und erwarb sich einen Ruf als Experte für diese Sparte der Literatur.

"Ich habe mich zu einer Art Spinne im Netz der Verlage entwickelt", kommentiert Le Blanc seine heutige Position. Er ist inzwischen fast so etwas wie ein freier Literaturprofessor für sein Spezialgebiet. Über viele Jahre hat er in seiner Geburtsstadt Wetzlar ein Institut aufgebaut, das inzwischen 13 Angestellte ernährt. Insgesamt ist die Science-Fiction-Szene in Deutschland allerdings sehr überschaubar, wie er meint: "Es gibt vielleicht 50 bis 100 Autoren, die regelmäßig schreiben, ein Dutzend größerer Verlage und dann noch einen Haufen Kleinverlage, die sich mit Mühe über Wasser halten." Man trifft sich also immer wieder bei Seminaren und Tagungen. Die wichtigste richtet Le Blanc sogar selbst aus: die Wetzlarer Tage der Phantastik, die im letzten September schon zum 32. Mal stattfanden.

Auf Deutsch erscheinen monatlich ungefähr zehn bis zwanzig neue Romane der Phantastischen Literatur. Die Autoren produzieren gute wie schlechte, realistische wie abgehobene Ideen. Um diesen Kosmos für seine Future-Life-Forschungszwecke in den Griff zu bekommen, hat Le Blanc sich folgende Systematik ausgedacht: Zunächst werden – je nach Projektpartner – bestimmte Themenziele festgelegt. Ein Unternehmen, das sich auf intelligente Häuser spezialisiert hat, interessiert sich naturgemäß besonders für literarische Beispiele aus dem Wohnumfeld. Ein Telekommunikationsanbieter oder eine Softwareschmiede will ganz andere Ideen vorgelegt bekommen – also werden auch die Leseziele entsprechend definiert. In einem vierteljährlichen Rhythmus trifft sich Le Blanc mit den Projektpartnern, um Grenzen und Vertiefungen festzulegen. "Mit dem DLR haben wir uns zum Beispiel auf den terrestrischen Verkehr beschränkt", sagt Le Blanc.

In einem zweiten Schritt wählt eine Arbeitsgruppe aus, welche Werke für welche Zwecke überhaupt infrage kommen. Alles, was nur auf Action angelegt ist, scheidet genauso aus wie rein zwischenmenschliche Handlungen ohne technologischen Hintergrund oder Texte, die auf magischen Weltbildern beruhen. Auch Genrezeitschriften, Fan-Magazine und Sekundärwerke werden ausgewertet. Und natürlich zapft Le Blanc sein Netzwerk von Science-Fiction-Fans und Wissenschaftlern an, um an möglichst viele konkrete Lesetipps zu kommen.

Externe Rechercheure zieht der Institutsleiter hinzu, wenn es auf die nächste Etappe geht: das Querlesen. Hier fängt die wirkliche Fleißarbeit an. Eine Handvoll Mitarbeiter prüft Hunderte von Büchern und liest sie teilweise auch komplett durch. Zwei festangestellte Kräfte, eine Literatur- und eine Naturwissenschaftlerin, extrahieren schließlich die Stellen, die für die Projektpartner von Interesse sein könnten. Die gefundenen Ideen werden möglichst ausführlich beschrieben, gute Textstellen zitiert. Schildert der Autor, welche Nebenwirkungen eine Erfindung mit sich bringt, werden natürlich auch diese notiert. Auf diese Weise entsteht zu jeder Idee ein Datenblatt, das kategorisiert wird und Querverweise enthält. So können am Ende auch ähnliche Ideen verglichen werden.

Ob man die ganze Arbeit heutzutage nicht viel besser mit einer Volltextsuche erledigen könnte? Le Blanc hält das für ausgeschlossen. "Für Novitäten existieren noch keine Suchbegriffe, eine elektronische Auswertung wäre also unergiebig." Im Übrigen sei das menschliche Gehirn einem elektronischen immer noch weit überlegen, jedenfalls bei dieser Aufgabe.

Die Technik von morgen vorauszudenken mit den Methoden von gestern – Thomas Le Blanc stört sich nicht an solchen Scheinwidersprüchen. Eine weitere Paradoxie ist, dass Science-Fiction die Zukunft nicht nur ausmalen, sondern sogar verändern kann: Gerade die schlimmsten Vorhersagen werden nicht Wirklichkeit, wenn rechtzeitig vor ihnen gewarnt wird. Das jedenfalls hoffen die Schriftsteller, das hofft auch Le Blanc. Das beste Beispiel ist für ihn Georg Orwells Dystopie "1984". Der 1948 verfasste Roman habe einen bemerkenswerten Anteil daran, dass wir im wirklichen 1984 eben nicht in einem Überwachungsstaat leben mussten, glaubt Le Blanc. "Die Science-Fiction redet eben nicht nur von der Zukunft, sondern gerade auch von der Gegenwart."

In der aktuellen Science-Fiction sind es laut Le Blanc weniger Datenschutzfragen als vielmehr düstere Klimaszenarien und überbordende medizinische Möglichkeiten, welche die Schriftsteller umtreiben. Und natürlich die Kernfrage der Science-Fiction: Verlassen wir irgendwann die Erde? Für diesen illustren Aspekt hat sich Le Blanc übrigens auch schon ein Schwesterprogramm von "Future Life" ausgedacht. Der Titel des Projekts weist allerdings noch ein bisschen weiter in die Zukunft. Er lautet: "Alien Life". (bsc [1])


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