Zahlen, bitte! 226 Pferdedroschken sowie einmal Berlin – Paris und zurück
Die vielzitierten Pferdedroschken werden immer dann genannt, wenn es um durch Fortschritt überflüssig gewordene Wirtschaftszweige geht. Doch wie war das damals?
Am 2. April 1928 brach der Pferdedroschkenfahrer Gustav Theodor Andreas Hartmann zu einer Reise nach Paris auf, wo er seinen 79. Geburtstag feiern wollte. Seine Fahrt nannte er eine Begräbnisfahrt, denn von den einst sehr populären Pferdedroschken gab es 1928 nur noch 226 Stück.
Ihnen standen, durch Inflations-Spekulationen begünstigt, die enorme Zahl von 9129 Kraftdroschken gegenüber. So viele Taxis sollte die Taxihauptstadt Deutschlands nie wieder haben.
Gustav Hartmann war als "Eiserner Gustav" eine bekannte Berliner Erscheinung. Eisern wartete der Gründer der kleinen Firma "Wannsee-Droschken" am Bahnhof Wannsee, bis der letzte Zug aus Berlin mit den Nachtschwärmern einfuhr, nur um am nächsten Tag als Erster wieder am Droschkenplatz zu stehen. 1927 war er der älteste Kutscher einer Pferdedroschke. Sein Gewerbe stand da schon vor dem Aus.
Kampf um die Straße zwischen Pferd und Motor
Der Machtkampf zwischen Kraft- und Pferdedroschke begann bereits im Jahr 1897, als die erste "Motormietdroschke" vorgestellt wurde. Das Neue Universum lobte die kompakte Länge der motorisierten Droschke und schrieb: "Auch entspringt ein wichtiger Vorteil noch aus dem Umstand, dass der Führer eines solchen Wagens den zu dessen Betrieb dienenden Motor viel mehr in der Gewalt hat als ein Kutscher sein oft störriges Pferd." Auf den Berliner Straßen ging es bei der Konkurrenz der beiden Droschken ruppig zu.
Der Berliner TU-Professor Uwe Fraunholz resümierte im Blog Technikgeschichte der TU: "Es gibt Berichte darüber, dass es direkt zu Konflikten mit den Pferdefuhrwerken kommt, die dann gerne ihre Peitsche benutzten und den Autofahrern eins überziehen, oder die bewusst den Verkehr behindern, indem sie in Schlangenlinien fahren, sich in einer Art Machtkampf dann nicht überholen lassen wollen. Aber 1928, wo diese Geschichte mit dem ‘Eisernen Gustav’ spielt, da ist die Kraftdroschke fest etabliert."
Der Machtkampf war spätestens 1913 entschieden. Von den 7451 Kraftdroschken im Deutschen Reich waren in diesem Jahr 2436 in Berlin registriert, gegenüber dieser KFZ-Macht waren die 656 Pferdedroschken ins Hintertreffen geraten. Besonders beliebt waren die Knatterer damals nicht, denn das Autofahren war eine Gefahr für alle, besonders bei Regen, wenn die Vollgummireifen und Bremsen versagten. Die Kraftdroschken allein verursachten 1913 insgesamt 4949 Unfälle. Das lag auch daran, dass die Pferde das recht laute Auto nicht gewohnt waren.
Protestreise gegen Verbot von Pferdedroschken
Gustav Hartmann protestierte mit seiner Fahrt nach Paris gegen die neue Berliner Droschkenordnung von 1927. Sie besiegelte das Schicksal der Pferdedroschken mit einem lapidaren Satz: "Eine Erlaubnis zum Betrieb von Pferdekutschen wird nicht mehr erteilt." Dementsprechend hängte Hartmann ein Schild an seine Droschke: "Der älteste Fuhrherr von Wannsee, Gründer der Wannsee-Droschken, erlaubt sich, mit der Droschke 120 die letzte Fahrt Berlin-Paris zu machen, da das Pferde-Material im Aussterbeetat steht."
Der Legende nach habe er zuvor die junge Langstreckenreiterin Rachel Dorange getroffen, die ihn nach dem besten Weg ins Zentrum von Berlin fragte. Auf seine Frage, woher sie denn komme, erzählte sie ihm von Paris. Viel wahrscheinlicher ist es, dass Hartmann einen der vielen Zeitungsberichte über die "schöne Amazone" gelesen hatte, die durch das Brandenburger Tor ritt. Jedenfalls kontaktierte Hartmann den Ullstein-Verlag und bat um Hilfe bei der Beschaffung der Reisepapiere und um finanzielle Unterstützung der Reise nach Paris.
Als Gegenleistung sollte Hans Hermann Theobald, ein Reporter der "Berliner Morgenpost" in der Droschke mitreisen. Außerdem ließ Hartmann Postkarten auf Deutsch und Französisch drucken, die er von der Droschke aus verkaufen wollte. Wirklich neu war, dass Hartmann einen Mann engagierte, der die wichtigsten Medien in der Hauptstadt wie Wolffs Telegraphisches Bureau über den Fortschritt der Reise informierte. Heute würde man von einem PR-Manager sprechen.
Viel Medienaufmerksamkeit auf der Reise
Die Reise wurde ein voller Erfolg, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Der Eiserne Gustav wurde ein Star der Medien und in ihre Starwelt integriert.
Ausschlaggebend war, dass Hartmann durch die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs fuhr und die Soldatenfriedhöfe besuchte, die mit den weißen Kreuzen (Franzosen) und die mit den schwarzen (Deutsche). Auf ihrem Ritt nach Berlin hatte Rachel Dorange, die Hermann bei seiner Reise nicht traf, die "unheimliche Gegend" gemieden und war über Belgien und die Niederlande gereist. Hartmann fuhr hingegen über Metz, Verdun und Epernay.
Der Weltkrieg lag gerade erst 10 Jahre hinter dem geschundenen Europa und seine Friedensgeste wirkte besonders bei den Pariserinnen und Parisern. "Nennen wir dreist diesen Einzug triumphal, nehmen wir ihn als Ersatz für den vor 10 Jahren von Ludendorff markig verkündeten", schrieb Ernst Toller über den Eisernen Gustav und sinnierte über seine eigenen Sympathien:
"Er kann nicht verhehlen, dass der geschäftstüchtige Gustav ihm sympathischer dünkt, als jene Helden, die Wagemut, Patriotismus und Geschäftssinn zu einem pathetischen Brei vermanschen. Er glaubte, die Erfolge jener öffentlichen Macht zu begreifen, die in Presse und Kino, in Theater und Magazinen, dem Publikum eine Welt vorgaukelt, die jenseits aller sozialen Problem, jenseits aller Klassenunterschiede, ein phantastisches Leben führt. Gustav hin und Ludendorff her, schloss er, freuen wir uns, dass diesmal Gustav gefeiert wurde zum Dank dafür, daß er Paris friedlich eroberte."
Und Erich Kästner verbeugte sich vor dem Kutscher in mehreren Montagsgedichten. Eines davon:
"Was sollen Völker mit Genies,
wir Völker wollen Gustavs haben,
die langsam aber sicher traben
und das gilt nicht nur für Paris."
Motortaxi-Schwemme durch Finanzierungstrick
Zum Zeitpunkt der Paris-Fahrt von Gustav Hartmann standen in Berlin an jeder Ecke zahlreiche Taxis tatenlos herum. Für die zugelassenen 9129 Taxis gab es einfach zu wenig Taxifahrer. Die enorme Ballung war durch den aus Odessa stammenden Spekulanten Jacob Schapiro ins Rollen gekommen, der über die von ihm übernommene Firma Carroserrie Schebara und über das NSU-Werk Heilbronn Tausende von Cyklon-Taxis und NSU-Fiat-Taxis für seine Berliner Taxi-Unternehmen Kandelhardt und Kraftag bestellte. So wurde er zum größten Autohändler Deutschlands.
Schapiro nutzte dabei die Hyperinflation aus: "Schapiros Methode war im Prinzip einfach und nutzte die Situation der fortlaufenden Geldentwertung aus: Die eingekauften Autos wurden mit Wechseln bezahlt. Der Zerfall der Reichsmark sorgte dafür, dass durch deren Prolongation der Realwert der nominalen Wechselbeträge entsprechend verringerte. Aus den Erlösen der Autoverkäufe konnte er danach problemlos die Wechsel bezahlen. Oft blieben den Herstellern nur noch Beträge, die umgerechnet im Pfennigbereich lagen, während Schapiro bleibende Sachwerte in Form von Automobilen dafür erhielt!"
Der Versuch von Schapiro, einen Automobil-Trust nach dem Vorbild der IG Farben zu errichten[PDF], scheiterte, als sein System mit der Stabilisierung der Währung zusammenbrach. Tausende NSU-Taxis wurden von Berlin nach Heilbronn zurückgeschickt und zu Transportern umgebaut. Die Zahl von 9129 Berliner Taxis wurde nie wieder erreicht. Heute sind laut Statista 8138 Taxis in der Bundeshauptstadt unterwegs.
Neues Magazin nach Ankunft in Berlin
Doch etwas Neues war mit seiner monatelangen Fahrt nach Berlin gekommen. So heißt es in der bereits erwähnten Schilderung der Ankunft von Ernst Toller: "Gustav verneigte sich nach rechts und nach links, während die Lorbeerkränze, von staatlichen und städtischen Behörden gestiftet, leise wippten. Aus dem Gebirge der Kränze ragte ein Papierfähnchen, darauf stand das seltsame Wort: Tempo. Die Zuschauer schienen zu verstehen, denn die Stimme des Volkes lautete: 'So siehste aus.´"
Zur Ankunft des Eisernen Gustavs hatte der Ullstein-Verlag am 11. September 1928 ein neues Abendblatt namens "Tempo" herausgebracht, ein Sensationsblatt, das von allen möglichen Rekorden berichtete und das "Berliner Tempo" hochleben ließ.
Noch heute sind Pferd und Esel im Autoverkehr gefährdet. Der 13 Jahre alte Fuchswallach Grasmus, der Gustav Hartmann nach Paris und wieder zurückgebracht hatte, war ein extrem gutmütiges Tier und nicht einmal durch den Lärm zu beeindrucken, als Gustav Hartmann in den Opel-Werken ein Auto geschenkt wurde, im Beisein von Grasmus.
Gustav Hartmann juckte das alles nicht mehr. Nach der Rückkehr aus Paris gab er das Kutschieren auf. Mit den überaus üppigen Einnahmen von der Reise gründete er den Gustav-Hartmann-Unterstützungsverein, der in Not geratenen Taxifahrerinnen und Taxifahrern hilft.
(mawi)