Zahlen, bitte: 40 Jahre NATO-Doppelbeschluss zu Atomraketen in Deutschland

Der NATO-Ankündigung, neue Atomraketen in Westeuropa zu stationieren, folgten massive Friedensdemos. Heute gibt es keine vergleichbare Friedensbewegung.

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Zahlen, bitte: 40 Jahre NATO-Doppelbeschluss zu Atomraketen in Deutschland
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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Vor 40 Jahren kündigte die NATO die Aufstellung von Raketen mit atomaren Sprengköpfen in Westeuropa an. Die "Nachrüstung" begann, um mit neuen sowjetischen Raketen gleichzuziehen, die Europa bedrohen würden. Gleichzeitig wurden von den USA und der Sowjetunion Verhandlungen über die Begrenzung dieser atomaren Mittelstreckenraketen verlangt.

Vor 40 Jahren hatte die Bundesregierung das Aufklaffen einer "Lücke" im west-östlichen Gleichgewicht der Abschreckung konstatiert. Bundeskanzler Helmut Schmidt warnte in einer Rede in London im Jahre 1977 vor einer unkontrollierten Aufrüstung mit "Intermediate Nuclear Forces" (INF) und betonte die Notwendigkeit einer Nachrüstung mit diesen Mittelstreckenraketen, die auch auf deutschem Boden installiert werden müssten. Das kostete ihn zwar schließlich die Regierungsverantwortung im Jahr 1982, aber sein Nachfolger Helmut Kohl machte außenpolitisch da weiter, wo Schmidt aufgehört hatte.

Der NATO-Doppelbeschluss wurde umgesetzt. Er sorgte dafür, dass die Bundesrepublik Anfang der 80er-Jahre die größten Demonstrationen ihrer Geschichte erlebte und die Grünen 1980 in das Parlament einzogen. Mit Sprüchen wie "Petting statt Pershing" wehrten sich die Menschen gegen die Stationierung von 108 Pershing-Raketen in der BRD und 464 Cruise-Missiles (Marschflugkörper) in Resteuropa. Auch in der DDR regte sich Protest unter dem Motto "Schwerter zu Pflugscharen".

In den 70er-Jahren modernisierten die Supermächte USA und UdSSR ihr Atomarsenal. Ab 1976 arbeiteten die USA an Raketen, die von Westeuropa aus bis Moskau fliegen konnten. Besonders die schnell einsatzfähige Pershing II als taktische Waffe für den präzisen Angriff und einer Reichweite bis 400 Kilometer vor Moskau sollte abschreckend wirken. Ihr Gegenstück RSD-10, von der NATO SS-20 genannt, konnte 5000 Kilometer weit fliegen und bedrohte von sowjetischem Territorium aus Ziele in ganz Europa. Da sie auf Basis der vorhandenen Interkontinentalrakete Temp-25 entwickelt wurde, war sie schneller einsatzbereit. Eine "Lücke" war da und musste durch "Nachrüstung" gegen die "Vorrüstung" gefüllt werden, eine Methode, die schon US-Präsident Kennedy erfolgreich anwandte. Hier erinnert sich Helmut Schmidt an die Umstände.

Das Konzept des Doppelbeschlusses, neue Atomwaffen zu stationieren, aber gleichzeitig Verhandlungen anzubieten, ging zunächst nicht auf. Das lag vor allem an den beiden Supermächten. Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein, womit die von der OSZE eingeleitete Entspannungspolitik Makulatur wurde. Allerdings hatten die ab 1972 ausgehandelten SALT-Verträge über die beiderseitigen Begrenzungen von Langstreckenwaffen weiterhin Bestand. In den USA setzte sich unter Präsident Jimmy Carter zunächst der militärische Flügel der "Falken" durch, der daran glaubte, einen atomaren Erstschlag gewinnen zu können. Die Gefahr eines neuen Kalten Krieges war real geworden.

Deshalb erhielt die Friedensbewegung großen Zulauf. Erster Höhepunkt war die Bonner Demonstration am 10. Oktober 1981. Insgesamt demonstrierten an diesem Tag 1,3 Millionen Bürger, die in der Tagesschau vom Kommentator Friedrich Nowottny als Bürger einer neuen Politik begrüßt wurden. Zu den bürgerlichen gewaltfreien Protesten gehörten die Sitzblockaden vor den Munitionslagern Golf und Mutlangen im Jahr 1982 und die Menschenketten im Jahr 1983. Erwähnt werden muss auch der Berliner Appell von 1982, der ein generelles Verbot von Atomwaffen für beide Teile Deutschlands forderte.

Dieser Appell muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass sich der "Friedensstaat" DDR – wo die Sowjetunion die SS-20 Vorgänger SS-12 stationiert hatte – stark militarisierte und ab 1978 das Schulfach "Wehrerziehung" einführte. In Westdeutschland wurde parallel dazu der Krefelder Appell von 1980 bis 1983 verbreitet. Dieser brachte der Friedensbewegung den Vorwurf ein, "vom Osten" gesteuert zu werden. Dagegen protestierte die Grünen-Abgeordnete Petra Kelly, die 1983 bei einem Treffen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Erich Honecker die Freilassung der Verhafteten der Friedensbewegung forderte. Sie trug dabei einen Pullover mit der Aufschrift "Schwerter zu Pflugscharen".

Die angespannte Situation änderte sich, als Ronald Reagan die Wahl zum US-Präsidenten gewann und die strategische Verteidigungsinitiative (SDI) ankündigte. Erst sollten Atombomben aus dem Weltall die Sowjetunion ausschalten, später experimentierte man gedanklich mit autonomen Kampfsatelliten ("Pebbles"), die das Vielvölkerland angreifen sollten. Technisch konnten diese Vorstellungen nicht realisiert werden. Insbesondere konnten all diese Konzepte nicht beweisen, dass sie die Zweitschlagskapazität der Sowjetunion außer Kraft setzen würde. Sie hatte immer genug U-Boote, um US-amerikanische Städte anzugreifen. Was sich auf sowjetischer Seite ab 1984 jedoch änderte, war die Erkenntnis, einen Rüstungswettlauf nicht gewinnen zu können.

Die unter dem Generalsekretär Michail Gorbatschow zunächst eingeschlagene Strategie war es, den Europäern Rüstungsverhandlungen anzubieten, etwa die Reduktion von den auf 250 auf Lafetten herumfahrenden SS-20 auf 162 Stück: Die NATO sollte gesprengt, Europa von den USA abgekoppelt werden. Die NATO lehnte das ab, aber gleichzeitig bekundeten die USA ihre Verhandlungsbereitschaft. Dies führte schließlich dazu, dass Ende 1987 der INF-Vertrag über Mittelstreckenraketen abgeschlossen werden konnte. Die Raketen wurden anschließend verschrottet.

Der INF-Vertrag wurde 2018 zunächst von US-Präsident Donald Trump einseitig gekündigt. Später setzte auch Wladimir Putin den Vertrag außer Kraft. Die US-Argumentation erinnert an 1979: Russland habe mit der Entwicklung neuer leistungsfähiger Raketen den Vertrag verletzt, darauf müsse man reagieren. Eine Parallele fehlt jedoch, wie der Politikwissenschaftler Philipp Grossert anmerkt: "In der multipolaren Gegenwart stehen sich nicht mehr zwei bis an die Zähne bewaffnete Militärblöcke mit Millionen Soldaten und Zehntausenden Panzern, Flugzeugen, Schiffen und Raketen gegenüber. Das Kriegsbild hat sich gewandelt. Russland verfolgt in der Ostukraine oder Georgien niederschwellige Aggressionen ohne reguläre Truppen und nukleare Drohgebärden. Im Irak, in Syrien und Afghanistan spielen sich 'neue Kriege' ab."

So wie die Mittelstreckenraketen in den 70er-Jahren das Kriegsbild großer Panzerschlachten ablösten, so ändert sich das Bild mit den nicht abfangbaren ultraschnellen Raketen. Solche Flugkörper werden nicht nur von den USA, den NATO-Bündnispartnern und Russland entwickelt, auch China, Nordkorea und der Iran arbeiten an ihnen. Zudem hat ein anderes Bedrohungsszenario an Bedeutung gewonnen, bei denen autonome Waffen mit Künstlicher Intelligenz und vor allem die Cyber-Kriegsführung weitaus wichtigere Komponenten eines möglichen Angriffes sind. Eine Friedensbewegung gibt es nur in Ansätzen, nicht aber als breite gesellschaftliche Bewegung wie zuletzt bei der Kampagne Kein Blut für Öl gegen den Irakkrieg. Ob eine neue, aus der Gesellschaft kommende Debatte um die Sicherheitspolitik Deutschlands eine ähnliche, alles an den Rand drängende Wirkung wie der Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss haben kann, ist eine offene Frage. (mho)