Zahlen, bitte! 538 Wahlmänner für die US-Präsidentschaft

Die USA wählen ihren nächsten Präsidenten – nach einem System, das vor mehr als 200 Jahren erdacht wurde. Es kann groteske Ergebnisse haben.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 211 Kommentare lesen
Lesezeit: 11 Min.
Inhaltsverzeichnis

Wenn in den Vereinigten Staaten in wenigen Stunden die Wahllokale für die Präsidentschaftswahl öffnen, erreicht eine Wahlprozedur ihren Höhepunkt, die es in der Art weltweit nur einmal gibt. Vor mehr als 200 Jahren erdacht, wirkt das US-Wahlsystem in einigen Aspekten inzwischen aus der Zeit gefallen. Vor allem, wenn die damals quasi aus dem Nichts erdachten Regelungen zu solch grotesken Resultaten führen, wie sie sich seitdem mehrfach ergeben haben. Gleichzeitig sorgen genau diese Besonderheiten dafür, dass in der kommenden Nacht schon einige wenige Zwischenstände verraten dürften, ob Donald Trump vier weitere Jahre im Weißen Haus bleiben darf oder ausziehen muss.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Als die verfassungsgebende Versammlung der USA 1787 diskutierte, wie der Präsident der Republik gewählt werden soll, fanden sie eine Abstimmung des Parlaments aus Aspekten der Gewaltenteilung nicht erstrebenswert. Eine Direktwahl wollten sie aber nicht nur nicht riskieren, die Vertreter der Sklaven-haltenden Staaten waren dagegen. Denn die Südstaaten waren bevölkerungsreich, aber nur mit den Sklaven, für die ein Wahlrecht außer Frage stand. Als Kompromiss einigte man sich auf ein System mit Wahlmännern. Die sollten in jedem Bundesstaat bestimmt werden, um den Präsidenten zu wählen. Wie viele genau, hängt vor allem an der Bevölkerungszahl, wobei Sklaven als ⅗ eines Menschen gezählt wurden. Den genauen Ablauf der Wahl regeln die Bundesstaaten dabei selbst.

Festgelegt wurde, dass jedem Bundesstaat so viele Wahlmänner zustehen, wie er Abgeordnete ins Repräsentantenhaus und den Senat entsendet. Die Zahl der Repräsentanten pro Bundesstaat wird regelmäßig angepasst – abhängig von dem Ergebnis der alle zehn Jahre durchgeführten Volkszählungen und unter der Vorgabe, dass es insgesamt genau 435 Sitze gibt. Im Senat sind es dagegen pro Bundesstaat immer zwei Senatoren. Dadurch werden kleinere Bundesstaaten bevorzugt, was aber durchaus so gewollt ist, damit die nicht völlig dominiert werden. Und so kommen in Texas auf jeden Wahlmann aktuell mehr als 700.000 Einwohner, in Wyoming sind es weniger als 200.000. Insgesamt ergibt das 535 Wahlmännerstimmen. Dank des 23. Zusatzartikels der US-Verfassung stehen dem Bundesdistrikt Washington D.C. aber – aktuell – ebenfalls 3 Wahlmänner zu, was deren Gesamtzahl auf derzeit 538 erhöht. Aktuell kommen die vier größten Staaten zusammen auf 28 Prozent der Stimmen im Electoral College, die 16 kleinsten auf 11 Prozent.

Diese keineswegs geradlinige Entstehungsgeschichte des Electoral College sorgt dafür, dass dieses Gremium nach den aktuellen Regeln immer eine gerade Anzahl von Sitzen hat – ungerade Sitzanzahl im Repräsentantenhaus, plus die faktisch immer 3 Sitze für Washington D.C., plus die gerade Anzahl an Senatssitzen. Ein Unentschieden ist also möglich. Tritt dieser Fall ein, oder bekommt kein Kandidat eine Mehrheit von mindestens 270 Stimmen, muss umgehend das Repräsentantenhaus entscheiden. Aber nicht mit Mehrheit – die aktuell ziemlich deutlich bei den Demokraten liegt – sondern durchgeführt von den Abgeordneten der Einzelstaaten jeweils als Block: Aktuell hätten damit die Republikaner in einer solchen Wahl die Mehrheit, obwohl sie nur 45 Prozent der Sitze besetzen.

Vorgesehen hatten die US-Gründungsväter, dass die Bundesstaaten lokal Delegierte – die Wahlmänner – bestimmen, denen sie die Wahl eines Präsidenten und eines Vizepräsidenten überantworteten. Deren Auswahl übernahmen anfangs die lokalen Parlamente, dann mehr und mehr die Wähler. Eigentlich sollten die Wahlmänner dann jeweils zwei Stimmen abgeben, um einen Sieger – den Präsidenten – und einen Zweitplatzierten – seinen Vize – zu bestimmen. Das führte aber schon 1796 und 1800 zu ungeplanten Konsequenzen und so wurde das heutige System eingeführt, bei dem jeder Wahlmann getrennt für einen Präsidenten und dessen Vize abstimmt. Außerdem änderten die Bundesstaaten nach und nach ihre Wahlsysteme dahingehend, dass alle ihre Wahlmänner nicht mehr frei nach ihrem Gewissen abstimmen durften, sondern für den Sieger der bundesstaatlichen Wahl. So wollten sie ihren Einfluss maximieren – im Sinne der Gründungsväter war das nicht. Abweichende Prozeduren gibt es heute nur in Maine und Nebraska.

Diese Modalitäten sicherten den Sklavenhaltern in den Südstaaten für Jahrzehnte genug Einfluss, um eine Einmischung in ihre Angelegenheiten zu verhindern. Und das, obwohl der Widerstand gegen die Sklaverei im Norden wuchs. So stammten sieben der ersten elf US-Präsidenten aus Virginia, ein weiterer aus South Carolina, neun der ersten 13 Präsidenten hatten selbst Sklaven. Als die Südstaaten die Oberhand verloren, zogen sie in den Bürgerkrieg, statt die Sklaverei aufzugeben. Erst nach ihrer Niederlage wurde die Sklaverei abgeschafft und ehemalige Sklaven offiziell gleichberechtigt. In der Ära der Reconstruction wurde deren Wahlrecht von der Bundesregierung – durch den Einsatz des Militärs – sichergestellt. Als die Südstaaten ihre Autonomie zurückerhielten, waren sie aber wieder für die Durchführung der (Präsidentschafts-)Wahlen zuständig und schlossen Schwarze systematisch aus.

Erst im Zuge der Bürgerrechtsbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die gröbsten Diskriminierungen beim Wahlrecht untersagt. Ersetzt wurden sie lokal durch subtilere Hindernisse, die etwa dafür sorgen, dass Schwarze mancherorts um ein Vielfaches länger an Wahllokalen anstehen müssen. Abgesehen davon, dass der Kreis der Wahlberechtigten nach und nach erweitert wurde – Frauen etwa dürfen seit 1920 ganz allgemein bei US-Präsidentschaftswahlen mitstimmen – hat sich am grundlegenden Prozedere nicht viel geändert. Doch statt der wenigen Zehntausend Männer mit Grundbesitz, die 1788 und 1789 ohne Gegenkandidaten für George Washington stimmten, gaben 2016 mehr als 137 Millionen US-Amerikaner und -Amerikanerinnen ihre Stimme ab. In diesem Jahr könnte sogar die Marke von 150 Millionen Stimmen geknackt werden.

Dass das System mit den Wahlpersonen nicht immer auch genau die Mehrheitsverhältnisse in der Wählerschaft widerspiegelt, ist dabei kein neues Phänomen. 1824 wurde mit John Quincy Adams zum ersten Mal ein US-Präsident gewählt, der nicht die meisten Wählerstimmen aller Kandidaten erhalten hatte. Einen derart großen Rückstand von mehr als 10 Prozent wie Adams sollte aber keiner seiner Nachfolger haben, ein Missverhältnis zwischen Wählerstimmen und Wahlpersonen wiederholte sich jedoch 1876, 1888, 2000 und zuletzt 2016 – bei einem Streitfall 1960. In absoluten Zahlen war der Rückstand Donald Trumps auf Hillary Clinton mit fast drei Millionen Stimmen aber der größte eines US-Präsidenten. Dass er trotzdem 77 Stimmen im Electoral College mehr erhielt als Hillary Clinton, unterstreicht nur, wie problematisch das System sein kann.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Inhalt geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Immer wieder hat das Wahlsystem außergewöhnliche Situationen ergeben. So stellte die junge Whig-Partei zur Wahl 1836 nicht einen, sondern vier Präsidentschaftskandidaten auf. Ihre Hoffnung: Dem Demokraten, Vizepräsident Martin van Buren, in allen Landesteilen einen genügend populären Widersacher entgegenzustellen, um ihm die absolute Mehrheit im Electoral College zu verwehren. Dann wäre das Repräsentantenhaus gefragt (so wie 1801 und 1825). Die Strategie ging nicht auf – van Buren bekam 51 Prozent der Stimmen und eine klare Mehrheit der Wahlmänner: Sie wurde nie wieder probiert. 1912 wiederum wollte Ex-Präsident Theodore Roosevelt antreten, seine Partei versagte ihm aber die Nominierung. Also gründete er eine eigene und landete deutlich vor seinem ehemaligen Parteifreund William Taft. Beide zusammen erhielten sogar mehr als 50 Prozent der Stimmen, aber nur 96 Wahlmänner. Woodrow Wilson bekam mit 42 Prozent der Stimmen 435 und wurde Präsident. Insgesamt hat sich schon vor mehr als 150 Jahren ein Zwei-Parteien-System herausgebildet, das seitdem gehalten hat.

Geradezu grotesk wirkt das Electoral College, wenn ein Kandidat einen ausreichenden Vorsprung bekommt, um die Bundesstaaten quasi abzuräumen. So entfielen auf den Republikaner Ronald Reagan immerhin gut 59 Prozent der Stimmen, aber weil er mit einer Ausnahme auch jeden Bundesstaat gewann, erhielt er ganze 525 Wahlmännerstimmen (über 97 Prozent), mehr als jeder andere Präsident – nur George Washington hatte ohne Gegenkandidaten zweimal das gesamte Electoral College hinter sich. Franklin Delano Roosevelt erhielt im Electoral College 1936 sogar 98,5 Prozent der Stimmen, bei etwa 61 Prozent der Wählerstimmen. Ähnliche Werte erreichte Richard Nixon 1972, nur zwei Jahre bevor er zurücktrat, um der Amtsenthebung zu entgehen. 1968 hatte Nixon dagegen mit gerade einmal 43 Prozent der Wählerstimmen gut 56 Prozent im Electoral College erhalten. Der rassistische Demokrat George Wallace hatte in mehreren Südstaaten gesiegt und einmal mehr die Gegner gespalten. Am knappsten war es übrigens 1876: Rutherford B. Hayes bekam genau eine Wahlmännerstimme mehr als Samuel Tilden, der eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen erhalten hatte.

Für die US-Präsidentschaftswahlen heißt das System seit Jahrzehnten, dass sich die Wahlkämpfer der beiden großen Parteien auf jene Bundesstaaten konzentrieren, die ihnen am aussichtsreichsten erscheinen, um sich insgesamt mehr als die Hälfte der Wahlpersonen zu sichern. Staaten, in den eine Mehrheit für die Republikaner sicher ist, bekommen genauso wenig Aufmerksamkeit, wie jene, bei denen das analog für die Demokraten gilt. Es hat sich lediglich verändert, welche Staaten zu den sogenannten Swing States gezählt werden, auf die sich stattdessen der gesamte Wahlkampf konzentriert. Umfragen zufolge dürfte es in diesem Jahr in Florida, North Carolina und Georgia besonders eng werden. Für Beobachter heißt das aber auch, dass das absolute Endergebnis nicht unbedingt abgewartet werden muss: Sollte Joe Biden etwa in Florida siegen, dürfte ihm auch eine Mehrheit im Electoral College und damit die Präsidentschaft sicher sein.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Inhalt geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Angesichts der Probleme des US-Wahlsystems gibt es immer wieder Reformbemühungen. Am weitesten fortgeschritten ist aktuell wohl der sogenannte National Popular Vote Interstate Compact. Die beteiligten Bundesstaaten sichern zu, ihre Wahlpersonen auf jenen Kandidaten zu verpflichten, der landesweit die meisten Wählerstimmen erreicht hat – aber nur, wenn sich genügend US-Bundesstaaten beteiligen, um dann auch dessen oder deren Sieg zu garantieren. Im Moment bringen die beteiligten Staaten 196 Wahlpersonenstimmen zusammen, nötig sind natürlich 270. Noch näher am Ziel war eine vorgeschlagene Gesetzesänderung im Jahr 1970, die aber letztlich im Senat am Widerstand der Vertreter kleinerer Staaten scheiterte.

Auch 2020 heißt es also, dass der künftige US-Präsident nicht die Mehrheit der Wählerstimmen braucht, sondern die Mehrheit im Electoral College. Die steht weiter bei 270 und nach der Schließung der letzten Wahllokale dürfte die Welt diesmal aber ganz besonders aufmerksam auf das folgende Spektakel blicken. Die Experten wissen, auf welche Staaten sie blicken müssen – Florida etwa zählt traditionell schnell aus und könnte vorentscheidend sein. Sollte Joe Biden nicht klar gewinnen, dürfte sich ein nie dagewesenes Gezerre um die Ergebnisse in einzelnen Bundesstaaten anschließen. Möglich ist, dass sich ein Endergebnis erst in Tagen oder sogar Wochen abzeichnet, auch wegen der Besonderheiten im Jahr der Corona-Krise. Zu erwarten ist, dass dann auch die Debatte um das Wahlsystem einmal mehr an Fahrt gewinnt.

In dem Artikel sind interaktive Grafiken eingebunden, die über den Berliner Dienstleister Datawrapper erstellt und ausgeliefert werden. Zum Datenschutz bei Datawrapper siehe deren Datenschutzerklärung. Persönliche oder personenbeziehbare Daten von Lesern der interaktiven Chats werden nicht gesammelt.

(mho)