Zahlen, bitte! Blutige Erdbeeren, ein Rockkonzert und 468 Verhaftungen

Die Einheitsfeiern liegen hinter uns. Das schafft Raum, über ein Ereignis zu berichten, das die DDR erschütterte: Vor 43 Jahren wurden 468 Jugendliche verhaftet

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Zahlen, bitte! Blutige Erdbeeren, ein Rockkonzert und 468 Verhaftungen
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Von
  • Detlef Borchers

Was in der DDR 1977 zu einer Art kleinem Aufstand und zu etlichen Verhaftungen von Jugendlichen führte, begann einige Jahre zuvor in San Francisco. Vor 53 Jahren zog eine wilde Truppe von Hippies durch den Stadtteil Haight Asbury und zelebrierte den "Death of Hippes, Birth of Free". Trauernde trugen einen Sarg, gefüllt mit Blumen, abgeschnittenen Bärten und langen Haaren. Begraben wurde "Hippie, Son of Media". Die Diggers, wie sich die Aktions-Truppe nannte, verbrannten zum Schluss den Sarg. Als die Feuerwehr den Brand gelöscht hatte, schmierten sich die Sargträger Asche ins Gesicht und erklärten sich zu "freien Menschen". Das Ende der Flower-Power-Ära war gekommen, Peace, Love und Happiness wurden längst im großen Stil von Zeitschriften wie Harper's Bazaar oder Vogue zur geldwerten Mode verramscht.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Die Aktion der Diggers am 6. Oktober 1967 hatte einen ökonomischen und einen kulturellen Hintergrund. Die Truppe propagierte Freiheit als Kultur und versorgte ab 1966 die Hippies mit freiem Essen. Jeder konnte mitessen, wenn er einen Napf und Besteck mitbrachte. Man musste nur vor der Essensausgabe durch einen "Referenzrahmen" schreiten, auf die "andere Seite" der Gegenkultur. 1967 sah diese Form des "Be-In" schon ganz anders aus. Der Summer of Love war vorüber. Haight Ashbury war völlig überlaufen, die Neuankömmlinge kampierten in Parks und auf den Straßen, sie wurden bestohlen und das freie Essen reichte längst nicht mehr aus. Der Tod des Hippie wurde als Warnung inszeniert: Bleibt wo ihr seit und verändert dort euer Leben. "Ein Teil der Macht und der Flexibilität unserer profitorientierten Ökonomie besteht darin, dass sie alles kooptieren kann. Sie kann alles vereinnahmen, außer dass sie diese Dinge niemals als gemeinfreie anbieten kann", schrieb der Digger Peter Coyote später, "Beats, Hippies, Punks und nun diese "Grunge-Leute", sie alle wollten sich absetzen und wurden dennoch geschluckt."

Die Diggers zelebrieren "Death of Hippes, Birth of Free".

Über den Abgesang der Hippies, lange vor Woodstock und Altamont, wurden etliche Filme gedreht. Zwei davon sind erwähnenswert, beide kamen 1970 in die Kinos. Beeinflusst von dem Ereignis, an dem sein Landsmann Ettore Sottsass teilnahm, drehte der Italiener Michelangelo Antonioni den Film Zabriskie Point, in dem einige Diggers wie die legendäre Phyllis Willner bei einem "Love-in" am Zabriskie Point am Rande des Death Valley zu sehen sind. Erwähnenswert ist der Soundtrack des Filmes mit Songs von Pink Floyd, den Rolling Stones und Grateful Dead. Der Deadhead Jerry Garcia komponierte die Musik zur Liebesszene.

Politischer fiel der Film Blutige Erdbeeren von Stuart Hagmann aus, weil er den studentischen Protest gegen den Vietnamkrieg mit einbezog. Dieser Protest beschäftigte auch die Diggers, die für die Demonstrationen an der Militärbasis Oakland kochten, aber eben nur als Teil ihrer Theater-Aktionen. Auch dieser Film beeindruckte durch seinen Soundtrack mit Songs von Buffy Sainte-Marie, Crosby, Stills and Nash und John Lennon. Sein Lied "Give Peace a Chance" wird von den Studenten zum Schluss des Filmes gesungen, während sie von der Nationalgarde niedergeknüppelt werden. Bedingt durch die politische Ausrichtung gegen den Vietnamkrieg durfte der Film in der DDR ab 1973 gezeigt werden und avancierte dort schnell zu einem Kultfilm. "Zumindest niemand aus dem Osten Deutschlands, der den Film gesehen hat, wird jemals dieses Finale vergessen. Er kam zwar erst im März 1973 in die Kinos der DDR, doch auch dann wurde er noch ein Millionenerfolg und emotional prägend für alle damals noch jugendlichen Kinobesucher", heißt es in dieser Filmbesprechung.

So wie Gesamtdeutschland jetzt seinen Einheitsfeiertag hat, hatte die DDR ihren Republikfeiertag, der am 7. Oktober begangen wurde, meist verbunden mit Paraden und Aufzügen. Im Jahr 1977 änderte sich das etwas, da sollte ein Rockkonzert mit der Band Express auf dem Alexanderplatz stattfinden. "Auf diesem Fest wird die junge Generation der DDR in vielfältiger Weise ihre Verbundenheit mit unserem Arbeiter-und-Bauern-Staat zum Ausdruck bringen", erklärte Staatssicherheitsminister Erich Mielke in seinem Tagesbefehl. Es kam anders. Nachdem auf dem überfüllten Alexanderplatz neun Jugendliche in einen Lüftungsschacht am Fernsehturm gestürzt waren, wurden Krankenwagen angefordert, denen die Volkspolizei den Weg freiräumen sollte. Daraus entwickelte sich eine mehrstündige Straßenschlacht zwischen den Jugendlichen und der Polizei, bei der Parolen wie "Mauer weg", "Honecker raus - Biermann rein", "Was ist Deutschlands größte Schande - die Honecker-Bande" gerufen wurde, wie die Stasi protokollierte.

Erst um Mitternacht hatte die Volkspolizei, verstärkt durch zahlreiche Stasi-Mitarbeiter die Lage unter Kontrolle. 313 Jugendliche waren da festgesetzt worden, weitere 155 wurden verhaftet, als man die Krankenhäuser in Berlin nach Verletzten durchsuchte. Die Strafen fielen drakonisch aus: 64 jugendliche "Rädelsführer" wurden wegen "Rowdytum" zu Haftstrafen zwischen vier Monaten und 3 Jahren verurteilt.

Im Jahr 2000 wurden die Stasi-Unterlagen "zur Aufklärung der Vorkommnisse während des Volksfestes am 7.10.1977" veröffentlicht. Die Staatssicherheit hatte verwundert protokolliert, dass nahezu alle 468 Verhafteten brav in der FDJ waren und aus "guten Elternhäusern" stammten: Die Eltern waren Mitarbeiter des Zentralkomitees, Angestellte in SED-Kreisleitungen und DDR-Ministerien, hochrangige Offiziere, DDR-Botschafter, Journalisten und Parteisekretäre. Zu den weiteren Gemeinsamkeiten dieser Jugendlichen, die die Stasi in ihren Verhören ermittelte, gehörte die Aussage, dass der Film "Blutige Erdbeeren" eine Vorbildfunktion hatte. Der Film wurde sofort auf den Index gesetzt, fast alle Kopien vernichtet. Die Eltern erhielten die Mahnung, die "unkontrollierte Freizeitgestaltung unter Einfluss der politisch-ideologischen Diversion des Gegners" zu unterbinden.

(jk)