Zahlen, bitte! Geheimnisvolles Hochhaus für Maschinen in 29 Stockwerken

Die mächtige, fensterlose Wolkenkratzerfassade des Long Line Buildings in New York sorgt für viele Spekulationen, was das Haus für Geheimnisse beinhaltet.

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Von
  • Detlef Borchers

Fensterlos und unbeleuchtet ist es nachts ein großes schwarzes Loch in der sonst illuminierten New Yorker Skyline, tagsüber schlicht ein blickabweisender Klotz aus schwedischen Granitplatten: Seit nunmehr 50 Jahren lädt das Long Lines Building Ortsunkundige in New York City zum Rätselraten ein, was es wohl in sich trägt, dass es von seinem Architekten John Carl Warnecke lyrisch als "Wolkenkratzer für Maschinen" bezeichnet wurde.

Auftraggeber war die New York Telephone Company, eine Tochtergesellschaft von AT&T. Dort nannte man das Ungetüm in der Planung ab 1969 "Project X": Der 170 Meter hohe Wolkenkratzer beherbergte auf 29 Stockwerken die Verbindungstechnik für die gesamten Überlandleitungen und Satellitenverbindungen von New York.

Das AT&T Long Lines Building in New York City, 33 Thomas Street: Der monumentale, fensterlose Bau zeigt schon von Weitem, dass er nicht primär für Menschen geschaffen wurde.

(Bild: CC BY 2.0, Marchin Wichary)

Der Architekt Warnecke, ein später Bauhaus-Schüler, sprach davon, dass er sich an den italienischen Geschlechtertürmen des Mittelalters orientiert hatte und schwärmte: "Er ist eine Burg des 20. Jahrhunderts, in der Speere und Pfeile durch Protonen und Neutronen ersetzt sind, die eine Armee von Maschinen im Innern inmitten der stillen Belagerung verarbeitet."

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Das 1974 in Betrieb gegangene Long Lines Building, wie der Klotz in 33 Thomas Street bald genannt wurde, war ein Produkt des Kalten Krieges. Atombombensicher oder "Apocalypse-Proof" sollte er sein und autark mit eigener Wasser- und Stromversorgung, um 1500 Personen zwei Wochen lang in seinen Kellern schützen können.

Die 29 Stockwerke oben drüber waren allein für Maschinen ausgelegt: Hätte das Gebäude Menschen beherbergt, wäre der Wolkenkratzer 45 Stockwerke hoch und hätte Fenster. Nach der Installation der eigentlichen Vermittlungstechnik arbeiteten im Schnitt selten mehr als 25 Menschen gleichzeitig im Gebäude, die meisten davon als Wächter, die die Umgebung im Auge behielten.

Vom großen Klotz in New York City gab es kleinere Ausgaben, etwa das 1975 errichtete Gebäude in Williamsburg oder in White Plains. Allen gemein war die Menschen abweisende Formsprache der Bauten, ironischerweise von einem Architekten entwickelt, der stilprägend für die "kontextualistische" Architektur war. Dabei flossen Anregungen aus der Umgebung oder der Geschichte in die Formsprache eines Gebäudes ein, wie es Warneckes Hawaii State Capitol zeigt.

Der "Wolkenkratzer für Maschinen" sollte nicht nur im Kriegsfall Schutz gewähren, sondern auch in Friedenszeiten den Schutz der kritischen Infrastruktur sicherstellen. Die Generatoren des Gebäudes sollten bei einem Stromausfall automatisch anspringen und die Kommunikationstechnik versorgen.

Das wurde regelmäßig geprobt. Wie wichtig diese Übungen waren, wurde am 17. September 1991 deutlich, als der Stromversorger das Gebäude planmäßig vom Netz trennte. Eine Kombination von technischem und menschlichem Versagen (ein vorgeschriebener Notfall-Spezialist war nicht zum Dienst erschienen) sorgte dafür, dass nicht alle Generatoren ansprangen und ein Teil des Gebäudes durch Batterien versorgt wurde, bis deren Kapazität erschöpft war.

Durch den dann eintretenden Stromausfall wurde das Kommunikationsnetz der US-amerikanischen Luftfahrtbehörde FAA beschädigt, sodass der Flugbetrieb auf 398 Flugplätzen im Nordosten der USA für zwei Tage eingestellt werden musste.

Irgendwo zwischen der Zentrale des fiktiven Terminator-Roboterunternehmens Skynet und einem Gebäude des Star-Wars-Imperium wirkt das Long Lines Building bei Nacht.

(Bild: CC BY 2.0, Billie Grace Ward)

Bereits 1979 wiederum wurde die Maschinenburg Star des Films "Winter Kills" (auf Deutsch "Der Philadelphia Clan") von William Reichert, in dem von dem Ungetüm aus ganz Amerika überwacht und gesteuert wird. Ganz Amerika? Nicht doch: ein junger Held, gespielt vom jungen Jeff Bridges, nimmt als Stiefbruder des ermordeten Präsidenten Kegan (J.F. Kennedy) den Kampf gegen das Gebäude und den eigenen Kegan-Clan auf, als er erkennt, dass der Computer in dem Gebäude ein eigenes Bewusstsein entwickelt und handelt, ganz wie der Computer Hal 9000 im Film "Odyssee im Weltraum".

Direkt nach der Konstruktion und dem Bau des Wolkenkratzers gehörte John Carl Warnecke 1977 zu dem Team von Architekten, die den Bau der sowjetischen Botschaft in Washington planten. Für diese Botschaft hatte die USA der Sowjetunion zum Entsetzen der eigenen Geheimdienste ein Areal auf dem Mount Alto überlassen, dem zweithöchsten Berg der Hauptstadt. (Auch die Sowjetunion überließ der USA ein gleich großes Areal in Moskau, doch längst nicht so überwachungstechnisch ideal gelegen). Mit der Operation Monopoly versuchten FBI und CIA, einen Tunnel bis unter die russische Botschaft zu graben, doch der Plan wurde vom amerikanischen Überläufer Robert Hansen verraten.

In seinen Memoiren "Camelot's Architect Life, Love and Modern Architecture" zeigte sich Warnecke überrascht über den Tunnelbau, denn er wusste (wie zahlreiche Beteiligte), dass die Sowjets selbst an einem eigenen Tunnelsystem bauten. Irgendwann hätten sich Spion und Spion unter der Erde von Washington getroffen.

Das bringt uns zurück zu Warneckes Long Lines Building von 1974. Im Lauf der Zeit schrumpfte die Vermittlungstechnik, die AT&T, später Bell Communications, noch später Verizon in dem Gebäude installierten. Teile des Gebäudes werden seitdem von Rechenzentren genutzt.

Das AT&T Long Line Building aus der Luft. Zu sehen ist es etwas rechts der Mitte.

(Bild: CC BY-SA 2.0, Kai Brinker)

In anderen Teilen soll die National Security Agency (NSA) ihre Überwachungstechnik installiert haben. Das legen jedenfalls Dokumente nahe, die vor 10 Jahren von Edward Snowden an Journalisten weitergegeben und von diesen veröffentlicht wurden.

Danach führte die NSA den New Yorker Turm unter dem Codenamen "Titanpointe". Das ist ein hübscher Name für den fensterlosen Klotz, ganz anders als der unverfängliche "Room 641A", hinter dem sich ein früheres Überwachungssystem der NSA versteckte, das in San Francisco arbeitete. 33 Thomas Street klingt ähnlich fade, da ist "Titanpointe" schon ein anderes Kaliber, nicht nur, was die Schlusspointe betrifft.

(mawi)