Zahlen, bitte! IBMs Entschuldigung nach 52 Jahren

IBM entließ einst Lynn Conway, weil sie sich als Transfrau outete – man entschuldigte sich erst 52 Jahre später. Die Chip-Pionierin starb nun am 9. Juni 2024.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 39 Kommentare lesen
Aufmacherbild Zahlen, bitte!

(Bild: heise online)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Detlef Borchers

Die Informatikerin Lynn Conway verstarb bereits am 9. Juni 2024 im Alter von 86 Jahren in Folge zweier Herzinfarkte. Zum Andenken an die wegweisende VLSI-Chippionierin haben wir das Zahlen, bitte! über Conway aus dem Jahr 2020 aktualisiert und wieder veröffentlicht.

Im Rahmen einer Online-Veranstaltung entschuldigte sich IBM Ende Oktober 2020 bei der Informatikerin Lynn Conway nach 52 Jahren. Der Konzern hatte Conway 1968 fristlos entlassen, als bekannt wurde, dass sie sich als Transsexuelle einer Operation zur endgültigen Geschlechtsumwandlung unterziehen wollte.

1969 begann Conway ihre zweite Karriere unter dem Namen Lynn Conway, hielt dabei aber ihre Vita bis 1999 geheim. Ihr Coming-out erfolgte, als Historiker von IBMs Watson Research Center das ACS-Projekt (Advanced Computing Systems) untersuchten. Noch im Jahre 2000 konnte sich aber IBM-Präsident Lou Gerstner nicht dazu durchringen, dass sich das Unternehmen entschuldigt. Lynn Conway, die sich bereits für das Ansehen von Frauen in der IT engagiert hatte, wurde eine prominente Kämpferin für die Rechte von Transsexuellen in der Gesellschaft.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Mit der von 1200 IBM-Mitarbeitern besuchten Online-Veranstaltung "Tech Trailblazer and Transgender Pioneer: Lynn Conway in conversation with Diane Gherson" hat sich IBM bei der Informatikerin Lynn Conway offiziell entschuldigt. Diane Gherson, die Personalchefin des Konzerns, sprach die Entschuldigung aus. Von Conway gibt es einen autobiografischen Bericht, welch drastische Folgen die Kündigung bei IBM für sie hatte. Sie wurde sozial geächtet, ihre Ehe wurde geschieden und sie musste als Informatikerin neu anfangen.

Die 1938 geborene Lynn Conway fühlte sich bereits in früher Jugend als Frau, die im Körper eines Jungen leben musste. In den 50er-Jahren experimentierte sie mit Hormonen, musste aber ihre Versuche abbrechen. Sie arbeitete als Programmiererin in dem ACS-Projekt von IBM und galt als leitende Autorin des Berichtes über "Dynamic Sheduling Instructions" vom Februar 1966.

Lynn Conway, im Juli 2006 aufgenommen.

(Bild: CC BY-SA 2.5, Charles Rogers)

Conways Leben änderte sich mit einem Schlag, als im November 1966 ein Bericht über die Operation von Transsexuellen in der New York Times erschien. Conway nahm Kontakt zu dem deutschstämmigen Arzt Harry Benjamin auf, der im Artikel erwähnt wurde. Benjamin hatte sich früh in der Weltliga für Sexualreform für die Rechte von Homosexuellen und Transsexuellen engagiert. 1966 veröffentlichte Benjamin das Buch "The Transsexual Phenomenon", in dem er die Veranlagung zur Transsexualität klassifizierte.

Lynn Conway gehörte zu der Kategorie, bei der Benjamin neben der Hormonbehandlung eine Operation befürwortete. Diese fand in Mexiko statt. Das Team im ACS-Projekt von IBM wollte die Frauwerdung geheim halten und sie als neue Mitarbeiterin behalten, doch das Management berichtete an Thomas Watson Jr. – und der sprach die fristlose Kündigung aus. Das ACS sollte der neue Supercomputer der IBM werden, da wollte er keine "Skandalgeschichten" dulden. Aus dem ambitionierten Projekt heraus wurde schließlich die RS/6000 realisiert.

Dass die Geschichte von Lynn Conway nicht am Transgender Day of Remembrance erzählt werden muss, verdankt sich der Tatsache, dass Lynn Conway nach einigen Jobs als Programmiererin zum Palo Alto Research Center von Xerox gelangte, das 1970 eröffnet wurde. Hier entwickelte sie zusammen mit Carver Mead die VLSI-Architektur und schrieb mit ihm den 1980 erschienen Klassiker "Introduction to VLSI Systems", der nicht nur zahlreiche Start-ups beflügelte, sondern als Standardwerk für Chip-Designer galt. Very-large-scale integration (VLSI) beeinflusste die Chipentwicklung fundamental, da sie eine enorme Miniaturisierung ermöglichte und die Mead-Conway-Revolution ging um die Welt: Bereits 1983 boten über 120 Universitäten VLSI-Kurse an und bis heute spielt VLSI in der Chipentwicklung eine entscheidende Rolle.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externes YouTube-Video (Google Ireland Limited) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Google Ireland Limited) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

1989 wurde Conway Professorin an der Universität Michigan und in die National Academy of Engineering aufgenommen. An der Universität entdeckte der Ingenieur Charles Vest eine Lücke in ihrem Lebenslauf. Als Präsident des Massachussetts Institute of Technology (MIT) versuchte Vest im Jahre 2000 den damaligen IBM-Präsidenten Lou Gerstner davon zu überzeugen, sich bei Conway zu entschuldigen, doch dieser lehnte das nach einiger Bedenkzeit ab.

Umso mehr konnte sich Lynn Conway über andere Auszeichnungen freuen. Sie ist eine der Menschen, die auf dem Stonewall of 40 trans heroes steht. Im Jahre 2014 wurde sie vom Time Magazine zur einflussreichsten LGBTQ-Person in der amerikanischen Kultur erklärt. Im Jahr 2020 passierte "etwas Wunderbares": IBM entschuldigte sich nach 52 bei ihr. 2023 wurde sie in die National Inventors Hall Of Fame aufgenommen. Zudem erschien im selben Jahre das 16-seitige Comic Lines in the Sand: The Lynn Conway Story (Unsung Heroes of the Information Age) über ihre Lebensgeschichte.

Lynn Conway verstarb mit 86 Jahren an den Folgen zweier Herzinfarkte am 9. Juni 2024 in ihrer Heimat in Jackson, im US-Staat Michigan.

(mawi)