Zahlen, bitte! – Mit Chemie 500 mal süßer als Zucker: Saccharin

Mit dem Süßstoff Saccharin bietet die chemische Industrie einen kalorienfreien Zuckerersatz. Dabei war es purer Zufall zu Tisch, dass der Stoff entdeckt wurde.

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(Bild: Hintergrundbild: Rillke, CC BY SA 3.0)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Saccharin ist der älteste künstliche Süßstoff der Welt. Er ist als "raffiniertes" Saccharin 500-mal süßer als Saccharose (Zucker) mit dem Grundwert 1. Er wurde 1878 von Constantin Fahlberg und Ira Remsen zufällig bei der Analyse von Steinkohlenteer entdeckt und gewann in der pharmazeutischen Industrie rasch an Bedeutung. In Deutschland wurde Saccharin zunächst von Fahlberg-List bei Magdeburg, dann von der Chemischen Fabrik v. Heyden bei Dresden und dem Farbenwerk Bayer in Elberfeld hergestellt.

Im Deutschen Reich sorgte die Lobby der Rübenzuckerindustrie und der Großagrarier dafür, dass Saccharin als Süßstoff nicht den Absatz des Rübenzuckers behinderte. In den USA sorgte Präsident Theodore Roosevelt höchst persönlich dafür, dass Saccharin nicht verbannt wurde: "Jeder der sagt, dass Saccharin gesundheitsschädlich ist, ist ein Idiot".

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Die Geschichte von Saccharin ist reich an Merkwürdigkeiten. Sie beginnt damit, dass die Süße des o-Benzoesäuresulfimids von Constantin Fahlberg durch einen Zufall entdeckt wurde: Beim Essen beschwerte er sich über das süße Brot, bis ihm klar wurde, dass er selbst der Überträger einer süßen Substanz war. Er eilte in sein Chemielabor und leckte an allen Substanzen seiner letzten Versuche, bis er die richtige Probe fand.

Der russischstämmige Fahlberg arbeitete damals im Labor von Ira Remsen an der Johns-Hopkins-Universität. Beide kannten sich vom Studium in Gießen und so berichteten beide in den einschlägigen Fachzeitschriften auf Deutsch und Englisch von der Entdeckung und der Eignung der Substanz als Süßstoff.

Danach machte sich Fahlberg in einem Labor in New York daran, den chemischen Herstellungsprozess des Benzoesäuresulfimids zu optimieren. Dabei entschloss er sich, den Süßstoff in Anlehnung an Zucker (Saccharose) Saccharin zu nennen, um die Zuckerähnlichkeit zu betonen. Schließlich ließ er den Herstellungsprozess 1885 in den USA und in Deutschland patentieren, sehr zum Ärger von Ira Remsen, weil dieser mit keinem Wort erwähnt wurde. In Deutschland wurde daraufhin mit Unterstützung der Verwandtschaft die Fabrik Fahlberg-List in Salbke bei Magdeburg aufgebaut, die ab März 1887 den als "Kristallinzucker" beworbenen Süßstoff produzierte.

Im ersten Jahr wurden bereits 33 Tonnen produziert, was in der Rübenzucker-Industrie für großen Ärger sorgte. Sie sah eine Bedrohung ihres Geschäftsmodells. Schließlich hatte man mit großem Aufwand den Rübenzucker ab 1820 in Konkurrenz mit dem transatlantischen Rohzucker aufgebaut und exportierte nun Zucker in großen Mengen. Prompt wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Zusatz von Saccharin in Konserven verbot. Das war den Rübenbaronen nicht genug, erst das vom Kaiser erlassene zweite Süßstoffgesetz verbot den Handel mit Saccharin. Nur Apotheken durften das Mittel ausgeben, nur Diabetiker sollten den Süßstoff beziehen können.

Viele Firmen mussten ihre Saccharin-Produktion einstellen (und wurden dafür entschädigt), Fahlberg-List überlebte. Einen anderen Ausweg fand die Chemische Fabrik von der Heyden in Radebeul. Sie umging mit einem anderen Verfahren das Patent von Fahlberg und exportierte dann ihr Zuckerin genanntes Produkt nach Russland. Schließlich übernimmt sogar Fahlberg-List das neue Herstellungsverfahren.

Arbeiterinnen befüllen in der im Tablettenhaus von Fahlberg & List Saccharin. Entstanden um 1900 herum.

(Bild: gemeinfrei)

Da in der Schweiz zum Schutze ihrer Schokoladenfabrikation weiter die Produktion von Saccharin durch die jungen Firmen Sandoz und Ciba erlaubt war, setzte prompt ein reger Saccharin-Schmuggel ein. In der Schweiz wurde Saccharin in geweihte Kerzen eingegossen, die nach Österreich exportiert und dort wieder geschmolzen wurden. Im niederbayerischen Bischofsreut sorgte der Heilige Nepomuk mit Süßstoff-Transporten nach Böhmen für zusätzliche Einnahmen der Dorfleute.

Der Erste Weltkrieg änderte die Situation. Damit Soldaten "echten Zucker" genießen können, wurde er daheim streng rationiert -- und das eben noch verbotene Saccharin wieder zugelassen. Hinzu kamen identische Zusatzstoffe anderer Fabriken unter anderen Namen wie Sycorin, Sycose, Sucrin oder eben Süßstoff Hoechst. Mit dem in den USA entdeckten Dulcin kam ein weiterer Süßstoff hinzu, der heute verboten ist, weil er zu Nierenschäden führte. In der Zwischenkriegszeit konnte Zucker wieder gekauft werden, doch auch Saccharin erfreute sich weiterhin großer Beliebtheit.

Das lag vor allem an der geradezu klassischen Entdeckung von Cyclamat im Jahr 1937 durch den Chemiker Michael Sveda. Er zündete sich im Labor eine Zigarette an und wunderte sich, dass sie süß schmeckte. Cyclamat ist ein weit schwächerer Süßstoff, der indes den metallischen Geschmack des Saccharins überdeckt. Kaum verwunderlich, dass noch heute die Mischung vom Süßstoff-Verband als ideale Kombination beworben wird.

In den USA legte Cyclamat nach dem Zweiten Weltkrieg eine steile Karriere hin, weil es ab 1951 im ersten kalorienreduzierten Getränk No-Cal von kurvigen Filmstars wie Kim Novak beworben wurde, die ihre "Linie" behalten wollten. In der Bundesrepublik startete 1963 die flüssige "Diätsüße" Natreen für Getränke ebenfalls als Mischung von Saccharin und Cyclamat, durfte aber über fünf Jahre nur in Apotheken verkauft werden.

1969 wurde Cyclamat in den USA von der Lebensmittelbehörde FDA verboten, aber in Großbritannien und dann auch in ganz Europa zugelassen. Das wiederum brachte die Coca-Cola-Company auf den Plan, mit der Brause Fresca ein eigenes kalorienreduziertes Getränk auf den Markt zu bringen, bei dem der bittere Geschmack von Saccharin durch den Grapefruit-Geschmack verdeckt wurde. Das führt uns zum Schluss zum wohl weltweit populärsten Marken-Süßstoff Sweet'n Low, von dem seit seiner Einführung 1958 500 Milliarden Säckchen produziert wurde.

Zunächst steckte in den rosafarbenen Tüten granuliertes Saccharin und Cyclamat, was nach dem US-Verbot durch eine Saccharin-Variante ersetzt wurde. Wer in Kanada oder Europa ein Säckchen öffnet, schüttet hingegen die Original Saccharin/Cyclamat-Kombination in sein Getränk. Unter Präsident Jimmy Carter wurde schließlich 1977 mit dem Saccharin Study and Labeling Act (PDF) festgelegt, dass auf Lebensmitteln und Kosmetika darauf hingewiesen werden muss, dass sie Saccharin enthalten.

Gehören chemische Zusatzstoffe ins Essen? Das Deutsche Zusatzstoff-Museum rät zumindest bei Saccharin davon ab. Ruft man bei ihm die Information über Saccharin ab, so heißt es: "Chemisch betrachtet ein Sulfonamid, eine Stoffgruppe, die vor allem als Antibiotika Bedeutung erlangt hat. Sehr reaktive Substanz mit breiter technischen Nutzung. Sie dient zur Herstellung von Holzleim und Pflanzenschutzmitteln, als Haar-Blondiermittel und als Kunststoffadditiv für PET-Flaschen." Von Lebensmitteln keine Spur. Aber halt, das Bundeszentrum für Ernährung sieht die Sache etwas entspannter.

(mawi)