Zahlen, bitte! Zählen mit der Gotteszahl

Wir benutzen hauptsächlich das Dezimalsystem, doch es gibt auch andere Zahlensysteme, zum Beispiel das Vigesimalsystem. Seinen Spuren gehen wir hier nach.

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Unser gängiges Zahlensystem ist dezimal, wohl weil der Mensch zehn Finger hat. Nun sind Menschen eng mit den Affen verwandt, die Hände wie Füße einsetzen können, vielleicht kommt daher das Vigesimalsystem. Dieses System auf Basis der "Gotteszahl" 20 gibt es in überraschend vielen menschlichen Kulturen. Es entfaltete sich in der Bibel und durch Shakespeare, doch auch in anderen Zusammenhängen haben sich Spuren des Vigesimalsystems erhalten. Das ist kein Wunder, denn es ist nach dem Dezimalsystem das zweithäufigste von der Menschheit genutzte System, gefolgt vom Duodezimalsystem.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Um die besondere Herkunft des Vigesimalsystems zu erklären, müssen wir kurz den deutschen Sprachraum verlassen. Das Lexikon der Weltsprachen zeigt, dass es heute nur wenige rein vigesimale Zahlensysteme gibt. Wechseln wir deshalb ins Englische, wo bis 1971 ein Sterling 20 Shilling wert war und jeder Shilling 12 Pennys. Dort war früher "score" für 20 die Zählbasis. In der St. James Bible finden wir Psalm 90:10, der das durchschnittliche Lebensalter eines Menschen so beschreibt: "The days of our years are threescore years and ten; and if by reason of strength they be fourscore years, yet is their strength labour and sorrow; for it is soon cut off, and we fly away."

Drei mal zwanzig und zehn sind siebzig, wie es denn auch Luther übersetzte: "Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre ...". Als biblisches Zitat finden sich die "threescore years" gleich mehrfach im Werk von William Shakespeare. Am bekanntesten ist wohl die Szene nach dem Mord in Shakespeares Macbeth, in der ein alter Mann erschüttert spricht: "Threescore and ten I can remember well: Within the volume of which time I have seen Hours dreadful and things strange; but this sore night Hath trifled former knowings." Was Christoph Martin Wieland so übersetzte: "Von Siebenzig Jahren her kann ich mich noch wohl besinnen, und in dieser langen Zeit hab ich fürchterliche Stunden gesehen, und seltsame Dinge…"

Wie Shakespeare nutzte auch Abraham Lincoln in seiner berühmten Gettysburg Address am 19. November 1863 den biblischen Ausdruck mit dem nötigen Pathos: "Four score and seven years ago our fathers brought forth on this continent a new nation, conceived in liberty, and dedicated to the proposition that all men are created equal." Aufbauend auf Lincoln und natürlich auf der Bibel nutzte Martin Luther King die Zwanziger-Zählung in seiner nicht minder berühmten Rede I have a dream auf den Stufen des Lincoln Memorial: "Five score years ago, a great American, in whose symbolic shadow we stand today, signed the Emancipation Proclamation."

Heute ist die Bedeutung von score im Englischen verschwunden, doch finden sich Spuren des Vigesimalsystems in anderen Sprachen, etwa im Französischen mit "quatre vingts" für 80 und "quatre vingt dix" für 90. Freilich gibt es auch "soixante" (60) und "soixante dix" (70) als Überreste aus dem keltischen Sexagesimalsystem. Auch im Dänischen finden sich Spuren des Vigesimalsystems.

Doch die deutlichste Ausprägung findet sich in einer nach einer Klimakatasrophe untergegangenen Kultur. Die altamerikanischen Maya rechneten nicht nur mit der Zahl 20, sie teilten auch in ihren Ritualkalender Tzolk’in das Jahr in 18 Monate mit 20 Tagen auf. Das Ritualjahr hatte 260 Tage, was sich aus der Multiplikation der heiligen Zahlen 13 und 20 ergab. Daneben nutzten die Maya landwirtschaftlich eine "lange Zählung" (Haab) mit dem Sonnenjahrzyklus von 365 Tagen zur Bestimmung der Aussaat und Ernte.

Die Maya rechneten mit der Zahl 20, symbolisiert durch einen Punkt über einem Zeichen, das einem halb geschlossenen Auge oder einer Muschel ähnelt. Sie kannten auch die Null, dargestellt als Muschel. Im Netz finden sich etliche Konverter für Maya-Zahlen. Durch die Anordnung in mehreren Ebenen, die die 20er-Potenzen darstellten, war es möglich, auch sehr große Zahlen darzustellen. Das Zahlensystem der Maya wurde um 1830 von Constantine Rafinesque-Schmaltz entziffert, der Steininschriften aus Guatemala und Yucatán mit Zeichnungen verglich, die Alexander von Humboldt vom Dresdener Codex veröffentlicht hatte.

Das mit der 20 einhergehende Kalendersystem und die Maya-Mathematik wurde schließlich 1880 vom Sprachwissenschaftler Ernst Wilhelm Förstermann erkannt. Er hatte als Direktor der Königlichen Bibliothek Zugang zum Codex und konnte ihn eingehend untersuchen. Er erkannte, dass nach 1.872.000 Tagen oder alle 5125 Sonnenjahre, im Zahlensystem der Maya mit 13 Bak'tun ausgedrückt, ein neues Jahrtausend anbricht. Zuletzt ging dieser Zyklus übrigens am 12. Dezember 2012 zu Ende, an dem Okkultisten den Weltuntergang befürchteten.

Der Dresdener Codex enthält Mulitplikationstafeln, die möglicherweise zur Berechnung der Umlaufbahn des Planeten Mars genutzt wurden. Andere berechneten den Zyklus der Venus. Ihr Erscheinen als Morgenstern wurde von den Maya als Zeichen für ein bevorstehendes Unglück gedeutet. Die größte dargestellte Zeitspanne sind 32.000 Jahre, die höchste Schlangenzahl ist 12.489.781.

Dass weltweit nur vier Handschriften der Maya existieren, ist Diego de Landa zu verdanken, dem spanischen Inquisitor von Yucatán. Er wollte die Religion der Maya vernichten und ließ am 12. Juli 1562 sämtliche zusammengetragenen Maya-Manuskripte verbrennen. Immerhin hinterließ er das sogenannte Landa-Alphabet, auf dessen Basis der russische Ägyptologe Juri W. Knorosow 1952 erkannte, dass die Maya-Schrift eine Mischung aus Silbenzeichen und Bildzeichen ist. Heute sind 90 Prozent der bekannten Maya-Schriften entziffert.

In den heute noch gesprochenen mesoamerikanischen Sprachen wie dem Quiché und Cakchiquel gibt es zwei Wörter für die Zwanzig, wobei eines 20 bedeutet, das andere auch "Mensch" heißen kann, eben die Finger und Zehen, die ein Mensch hat. Erst in jüngster Zeit hat es die 20 zur Gottes-Zahl gebracht. Angeblich bezeichnete der englische Mathematiker John Conway die Zwanzig so, weil 20 Drehungen zur optimalen Lösung des Zauberwürfels nötig sind.

(anw)