Balkonkraftwerke überall: Photovoltaik ist endgültig angekommen

Mini-PV-Anlagen gibt es jetzt im Baumarkt und beim Discounter und auch VDE und BNetzA setzen sich für sie ein. Das war überfällig, meint c’t-Redakteur Jan Mahn.

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Gibts noch gar nicht: Der KI-Bildgenerator Midjourney hat schon man eine Vorstellung, wie ein Terrassenkraftwerk in gehobener Ausstattung aussehen kann.

(Bild: KI-Bildgenerator Midjourney)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Jan Mahn
Inhaltsverzeichnis

"Meine Güte, wenn alle, die sich über Balkonkraftwerke streiten, einfach zwei Module an den Balkon hängen würden, wäre doch so viel gewonnen. Ich hab in der Zeit meine ganze Familie damit ausgestattet." Diese Sätze schrieb mir ein Leser, der die umfangreiche Berichterstattung der letzten Tage verfolgt und sich gewundert hatte, dass seit 2019 über Schuko-Stecker und rückwärtsdrehende Zähler diskutiert wird. Dass Netzbetreiber angesichts einiger Kilowattstunden, die als Überschuss ins Netz fließen, einen solchen Aufriss bei der Anmeldung veranstalten.

Auch mich hat die Diskussion ermüdet, viel lieber würde ich zum Beispiel über neue Wechselrichter mit besserer Datenauswertung berichten. Oder über fallende Modulpreise, statt ständig über diesen Nebenkriegsschauplatz. Doch was in den letzten Tagen veröffentlicht wurde, stimmt mich hoffnungsvoll, dass ein Ende der Diskussionen nahe ist. Erst der Chef der BNetzA, dann der VDE höchstselbst, sprechen sich für den Schuko-Stecker aus. Der VDE fordert dazu noch eine höhere Bagatellgrenze von 800 Watt. In den Kommentaren zum Artikel meines Kollegen gaben gleich mehrere Leser an, zunächst den Kalender überprüft zu haben. Doch der zeigte Januar, nicht den 1. April. Es stimmt also: Das kleine Nischenprodukt bekommt große Fürsprecher. Ganz überraschend kommt das nicht, denn im Kern fordert der VDE jetzt, was viele Betreiber schon praktizieren.

Auch schön ist der VDE-Vorschlag, dass man die Geräte künftig direkt bei der Bundesnetzagentur online anmelden solle, nicht mehr dezentral beim Netzbetreiber. Was die Netzbetreiber aktuell an gruseligen Formularen verbrochen haben, ist eine wahre Zumutung. Die Anmeldung von 800-Watt-Anlagen kann dann direkt als Probelauf für eine zweite Phase dienen: Denn auch bei den großen Anlagen müssen die Provinzfürsten bei den Stadtwerken dringend entmachtet und die Aufgaben zentralisiert werden. Dass aktuelle wertvolle Arbeitskräfte von Photovoltaikfirmen mit dem Ausfüllen schlecht gestalteter Formulare blockiert werden, ist nicht mehr zeitgemäß.

Was 2022 an deutschen Balkonen passiert ist, ist einzigartig. Und das ist keine subjektive Wahrnehmung in einer technikinteressierten Filterblase. Das Balkonkraftwerk ist mal sowas von im Massenmarkt angekommen. Das belegen Angebote wie die des Discounters Netto, die für Aufsehen sorgten: PV-Module auf dem Titelbild eines Netto-Prospekts (wenn auch bisher nur im Versand), das ist eine Zeitenwende. Werden die tagesaktuellen PV-Preise bald zum morgendlichen Gesprächsthema am deutschen Frühstückstisch so wie die Preise von Milch, Butter und Schweinefilet? Ich hätte nichts dagegen, es wäre nicht das erste Zeitalter, das ein Discounter eröffnete: Als in den Neunzigern Aldi den ersten PC auf dem Titelbild des Prospekts hatte, war der PC endgültig angekommen.

Auch in harten Zahlen finden sich Belege für die Bedeutung der steckerfertigen Energieerzeugungsanlagen. Im Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur, in dem sich Betreiber anmelden müssen (und das bekanntermaßen nicht immer tun) kann man ganz gut auf Anlagen unter 1 Kilowatt Peak filtern und die Daten scheibchenweise herunterladen. Setzt man die CSV-Schnipsel zusammen und addiert die Leistung, kommen bemerkenswerte Ergebnisse heraus. Insgesamt gibt es 103.000 der kleinen Anlagen, die zusammen auf über 65.000 kW Peak kommen. Die bemerkenswerteste Erkenntnis: Über 50.000 Kilowatt wurden allein im Jahr 2022 zugebaut. Und das junge Jahr 2023 knüpft daran an: 2800 Kilowatt sind nach 12 Tagen schon ans Netz gegangen. Die meisten der ständig ausverkauften Netto-Anlagen dürften da noch nicht enthalten sein. Und auch die Senkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 0 Prozent für Photovoltaik hat sich noch nicht überall rumgesprochen und dürfte den nächsten Schub auslösen. Zur Sicherheit noch mal: Seit 1.1. sind die Komponenten mehrwertsteuerbefreit. Also jetzt zugreifen, bevor die Preise wieder anziehen!

103.000 Anlagen klingt viel, macht aber gerade mal 0,25 Prozent der rund 40 Millionen Haushalte aus. Die sind damit in der Lage, einen großen Teil des Grundverbrauchs tagsüber selbst zu decken. Kann man da wirklich schon von einem Massenmarkt sprechen? Noch nicht ganz, aber der steht kurz bevor. Denn nicht vergessen darf man den viralen Effekt. Photovoltaik ist hoch ansteckend. Ein unvorsichtiger Satz beim Familienessen zu Weihnachten, schon steht die Verwandtschaft Schlange und fragt, ob man nicht Wechselrichter und Module besorgen könne. Wie in Aldi-PC-Tagen sind es die Technikaffinen, die zum Helfer und Berater werden. Und spätestens wenn das Modul hängt und der Zähler tagsüber steht, spricht sich das auch bei Nachbarn rum. Und bei Freunden von Nachbarn. Darunter ist irgendwann der nächste mit einem Händchen für Technik, die nächste Keimzelle entsteht. Und nicht wenige können nach 600 Watt nicht genug bekommen, wagen den nächsten Schritt und lassen sich das ganze Dach bedecken. Balkonkraftwerke sind ganz nebenbei auch Werbemittel für große Anlagen.

Es ist zweifelsfrei Bewegung im Markt, Lieferschwierigkeiten scheinen vorerst überwunden und bei den Dauerstreitthemen gibt es Grund zur Hoffnung auf Besserung. Alles gut? Noch nicht ganz. Mal angenommen, der VDE hebt nicht nur den Schuko-Stecker in seine eigene Norm und der Gesetzgeber reduziert den Bürokratieaufwand beim Netzbetreiber, so bleibt für jeden, der kein Dach sein Eigen nennt, noch eine andere Hürde. Sobald man die Module außerhalb des Balkons, zum Beispiel am Geländer, installieren will, muss der Vermieter zustimmen. Und unzugängliche Hausverwaltungen und konservative Vermieter hassen nur eins mehr als Ballspielen auf dem Rasen und Kinderwagen im Treppenhaus: Bunte Sichtschutzelemente und Sat-Schüsseln an ihren formschönen Balkonen. Ein Photovoltaikmodul? Hässlich, außerdem haben wir das früher doch nicht so gemacht.

Das Umdenken hat in der Wohnungswirtschaft, so berichten es uns Leser immer wieder, noch nicht überall begonnen. Wer heute Balkonkraftwerke untersagt, weil das einheitliche Erscheinungsbild des Mehrfamilienblocks gestört wird, dem muss man schlicht Bösartigkeit unterstellen. Denn er verwehrt seinen Mietern den Zugang zu einem Gerät, das die Stromrechnung drückt und sich nach wenigen Jahren amortisiert. Und er verwehrt die Teilnahme an einer dezentralen Energiewende. Wünschen kann man jenen Verhinderern nur, dass entweder der Gesetzgeber eingreift und das Widerspruchsrecht von Vermietern beschränkt oder dass der Wohnungsmarkt sich doch eines Tages so entwickelt, dass der Mieter sich wieder die beste Wohnung aus vielen Angeboten aussuchen kann.

Aufhalten können auch die Vermieter den Erfolg der kleinen Kraftwerke längst nicht mehr. Denen steht auch im Jahr 2023 weiterer Aufschwung bevor. Wie einst der Familien-PC sind sie hoffentlich bald so alltäglich und gewöhnlich, dass niemand mehr darüber spricht. In 10 Jahren könnten zwei PV-Module wie selbstverständlich zu einem Haushalt gehören wie der Stromzähler oder die Waschmaschine. Wir sind auf einem guten Weg.

(jam)