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"Code kennt keine Fairness"

Gregor Honsel

Cyberlaw-Koryphäe Lawrence Lessig über die Gewaltenteilung im Netz, Programmierer als Gesetzgeber und den wachsenden Einfluss virtueller Welten auf die reale.

Lawrence Lessig ist Jura-Professor an der Stanford Law School. In seinem Bestseller "Code" stellte er dar, wie Programmierung zunehmend an die Stelle klassischer Gesetze und Sanktionen tritt ("Code is Law"). Lessig engagiert sich zudem in der Open-Source-Bewegung und ist entschiedener Gegner von Software-Patenten. Im Interview mit Technology Review spricht er über Gewaltenteilung im Netz, Programmierer als Gesetzgeber und den wachsenden Einfluss virtueller Welten auf die reale.

Technology Review: Herr Lessig, was fasziniert Sie so an Cyber-Welten?

Lawrence Lessig: Meine Arbeit soll herausstellen, wie die technologische Architektur immer mehr zu einem strategischen Entscheidungsfaktor wird. Dieser Aspekt wird bei virtuellen Welten besonders deutlich, da er hier quasi unvermeidbar ist. Durch die Architektur werden äußert wichtige Werte in Bezug auf Entscheidungen und Richtlinien festgelegt.

Ein Beispiel: Die Festlegung, wie hoch man in Second Life fliegen kann, war eine strategische Festlegung, die durch Code implementiert wurde. Dabei sollte ein ausgewogenes Maß zwischen der Bewegungsfreiheit und dem nötigen Spaß geschaffen werden. Entscheidungen dieser Art gibt es millionenfach.

TR: Werden solche Entscheidungen nicht meist willkürlich von Programmierern aus dem Bauch heraus getroffen? Inwieweit sind sie demokratisch legitimiert?

Lessig: Diese virtuellen Welten haben viele implizite Gestaltungsformen. Der Aufbau von Second Life enthält ein ganzes Bündel an Werten. Beispielsweise ist derjenige, der eine Sache erstellt, automatisch auch der Eigentümer. Doch ist das definitiv keine Demokratie.

Meiner Einschätzung nach wird Folgendes passieren: Es wird zwischen den kommerziellen Sites einen gewissen Wettbewerb um die Gunst der Benutzer geben. Aber wasserfest ist diese Prognose nicht. Wenn viele meinen "Ich möchte mich nicht mit Führungsproblemen beschäftigen, sondern einfach nur spielen", dann gibt es keine große Nachfrage für regulatorische Transparenz.

TR: Da auch in anderen Cyber-Welten keine demokratischen Elemente vorhanden sind, lässt sich daraus schließen, dass keine Nachfrage nach Demokratie besteht. Wird Demokratie überschätzt?

Lessig: Eigentlich nicht. Selbst Leute, die hundert Stunden pro Woche in Second Life verbringen, haben trotzdem noch ein echtes Leben mit allen täglichen Pflichten und Lasten. Sie müssen zur Arbeit gehen und bisweilen auch in den Krieg ziehen. Und hier besteht die mit Abstand größte Nachfrage nach Demokratie. Sollten die Leute in der Zukunft mehr und mehr in die virtuellen Welten eintauchen, dann werden auch jene Orte zu den Schauplätzen, an denen nach Demokratie verlangt wird.

TR: Glauben Sie, dass das Modell eines "freundlichen Diktators", zusammen mit einem Schuss Anarchie, in virtuellen Welten weiterhin tragfähig ist?

Lessig: Egal, wie virtuell Second Life ist, so unterliegt es trotzdem den Gesetzen der echten Welt. Wenn also beispielsweise ein Vertrag zwischen mir als Benutzer und Second Life über Grunderwerb zustande kommt und Second Life im Nachhinein Vertragsbedingungen ändert, muss diese Entscheidung von Second Life genau wie im realen Leben von einem Gericht begutachtet werden. Second Life unterliegt in Wirklichkeit in großem Umfang verschiedenen Rechtsprechungen, und soweit sich erkennen lässt, wird sich daran auch nichts ändern.

TR: Wie steht es mit Geschäften zwischen den Avataren? Da mir die Identität des Avatars, mit dem ich Geschäfte abschließe, nicht bekannt ist, werde ich doch sicherlich einige Schwierigkeiten haben, ihn bei Rechtsstreitigkeiten vor Gericht zu zitieren.

Lessig: Also wenn es in Second Life zu Rechtsstreitigkeiten vor Gericht kommt, ist es zumindest nach US-amerikanischem Recht kein Problem, von Second Life die erforderlichen Informationen anzufordern, die für gerichtliche Auseinandersetzungen erforderlich sind. Anonymität bedeutet also nicht, dass sich ein Benutzer seinen Verpflichtungen entziehen kann.

TR: Als ich mich bei Second Life angemeldet habe, wurde meine Identität nicht überprüft. Kann eine Gesellschaft auf dieser Grundlage funktionieren?

Lessig: Natürlich. Auch in der echten Welt können Sie gewisse Handlungen vornehmen, ohne Ihre wahre Identität preiszugeben. Die Frage ist nur, ob sie nachverfolgbar ist. Die Nachverfolgbarkeit besteht sowohl in der echten als auch in der virtuellen Welt.

TR: Glauben Sie, dass unabhängige Körperschaften wie Legislative, Polizei oder Zentralbank mit der Zeit automatisch entstehen werden?

Lessig: Das Entstehen bestimmter Einrichtungen, die den staatlichen Institutionen der echten Welt ähneln, zeichnet sich bereits ab. So entsteht in Second Life gerade eine Stelle, an der man Verträge notariell beglaubigen lassen kann. Diese Institution entstand dadurch, dass die User von Second Life die Erstellung einer derartigen Einrichtung für nötig befanden.

Ein anderer Aspekt: Second Life selbst fungiert quasi als Zentralbank. Historisch gesehen funktionieren Zentralbanken so lange, wie die Leute Vertrauen darin haben. Doch geht dieses Vertrauen einmal verloren, kommt es zu ernsten Problemen. Deshalb meine ich, dass Second Life mehr als vorsichtig bei den Währungsangelegenheiten sein muss.

TR: Kann man also sagen, dass die virtuelle Welt im Grunde denselben historisch gewachsenen Regeln wie die echte unterliegt? Ist Second Life aus wissenschaftlicher Sicht, etwa für Historiker, so eine Art Versuchsobjekt, an dem sich die Entwicklung der Gesellschaft ablesen lässt?

Lessig: Auf jeden Fall. Die Geschichte der Demokratie und der freien Willensbildung ist die Folge von starken Überwachungsstaaten, die erkennen mussten, dass sie, wenn sie weniger Kontrolle über die Bevölkerung ausübten, wohlhabender und stärker wurden. Aus diesem Grund lockerten sie die Zügel und ließen mehr Liberalismus und Demokratie zu.

Dieselbe Tendenz lässt sich in Unternehmensgesellschaften beobachten: Je mehr Eigenverantwortung und Freiheit den Leuten gegeben wird, desto höhere Gewinne lassen sich erzielen. Der Instinkt einer Unternehmensführung ist also durchaus mit dem einer Monarchie im 14. oder 15. Jahrhundert zu vergleichen. Und in Second Life lässt sich das ganz gut beobachten.

TR: Die Steuermöglichkeiten durch Code sind in einer virtuellen Welt weitaus größer sind als in der realen. Welche Konsequenzen hat das?

Lessig: Wir müssen Mechanismen entwickeln, codegesteuerten Vorgaben gegenüber genauso individuell angemessen reagieren zu können wie gegenüber gesetzlichen Vorgaben im echten Leben. Ich glaube, noch gibt es das nicht. Dazu sind noch weitere Entwicklungen nötig.

TR: Wie kann man mehr Bewusstsein für Codevorgaben erreichen? Code ist doch noch undurchsichtiger als Regeln.

Lessig: Wir sind beide keine Programmierer, aber die meisten Leute in der echten Welt sind auch keine Rechtsanwälte und müssen also auf das Fachwissen der Rechtskundigen vertrauen. In der virtuellen Welt wird diese Rolle den Programmierern zuteil. Dadurch entsteht eine interessante Wettbewerbssituation. Für Second Life gibt es bereits Open-Source-Clientsoftware. Mit Open-Source-Serversoftware würde der Code absolut transparent.

Manche Leute sagen, sie würden ihre Geschäfte lieber in Second Life tätigen, da sie dort zumindest wissen, was passiert, anders als bei World of Warcraft, wo keiner weiß, was vor sich geht und der Code äußerst stark abgeschirmt wird. Dadurch könnte mehr Wettbewerbsdruck aufgebaut werden. Doch noch haben wird nicht genug Erfahrungen darüber, ob und wie stark die Leute Druck ausüben werden.

TR: Sollte es gesetzgebende Instanzen geben, die darüber entscheiden sollen, ob bestimmte Funktionen in den Code integriert werden oder nicht? Es gibt niemanden, der den Programmierern übergeordnet ist.

Lessig: Bis zu einem gewissen Grad stimmt das, aber nicht voll und ganz. Es gibt schon bestimmte Regeln, zum Beispiel für den Zugriff. In den Vereinigten Staaten muss man bestimmte Punkte – wie barrierefreien Zugang – beachten, wenn man eine Unternehmens-Website erstellt. Die Programmierer müssen also schon eine Reihe von Vorschriften einhalten.

Die Frage ist, wie weitgreifend diese Vorschriften sind und zu welchem Ausmaß sie berücksichtigt werden müssen. Ich hoffe ganz stark, dass das Ausmaß gering sein wird, denn Interventionen bremsen immer. Doch auf null zurückschrauben lassen sie sich auch nicht, da die virtuelle Welt zu einem gewissen Maß immer die echte Welt abbildet und abbilden soll.

TR: Aber gibt es da nicht ein ganz besonderes Problem im Zusammenhang mit Reglementierung und Code, anders als bei gesetzlichen Bestimmungen? Ein Code wendet eine Regel einfach an, ob sie passt oder nicht. Und das funktioniert in der realen Welt nicht, sonst bräuchten wir keine Gerichte, die Regeln interpretieren. Warum sollte das in Cyber-Welten funktionieren?

Lessig: Bestimmte Regeln in der echten Welt laufen auch mehr oder weniger automatisch ab. Es wird bestimmt Fälle geben, in denen bestimmte rechtliche Grundsätze nicht über Code implementiert werden können. Die Durchsetzung des Urheberrechts durch Code zum Beispiel ist problematisch.

Eine Software wie die eines Digital Rights Managements kann nicht entscheiden, ob Inhalte "fair" im Sinne einer Fair-Use-Lizenzvereinbarung verwendet werden. Aber man kann nicht sagen, dass rechtliche Grundsätze, nur weil sie als Code und in Form von Technologie dargestellt werden, keine rechtlichen Grundsätze mehr sind.

TR: Aber führt nicht die Regulierung durch Code zur Aufhebung der Gewaltenteilung? Der Code gilt ja dann universell und übernimmt alle drei Funktionen: Legislative, Rechtsprechung und Exekutive.

Lessig: Nicht unbedingt. Nehmen wir als Beispiel ein System, das so programmiert wurde, dass Ihr Konto und all Ihre Vermögenswerte nach vier erfolglosen Anmeldeversuchen vollständig gelöscht werden. Die Entscheidung liegt doch bei den Programmierern, die den Code schreiben, und nicht beim Code. Das ist von der eigentlichen Ausführung des Codes getrennt.

Nach der Ausführung des Codes, da haben Sie Recht, wurde damit das Urteil gefällt, und Ihr Konto wird deaktiviert. Trotzdem agiert noch ein Rechtssystem im Hintergrund, und Sie können angeben, dass eine bestimmte Regel anhand normaler rechtlicher Grundlagen überprüft werden soll. Hierdurch wird die Gewaltenteilung ebenso wenig verletzt wie beispielsweise durch einen Polizisten, der Ihrem Auto wegen nicht bezahlter Tickets eine Parkkralle verpasst. Er wendet damit eine Regel an, die von einer anderen Instanz aufgestellt wurde.

TR: Und wer sind diese übergeordneten Instanzen?

Lessig: Das Rechtssystem der realen Welt, nicht das der virtuellen Welt.

TR: Aber die echten Gerichte wären doch völlig überlastet, wenn jeder Konflikt in einer virtuellen Welt von ihnen geregelt werden müsste.

Lessig: Stimmt. Doch landet auch in der echten Welt längst nicht jede Auseinandersetzung vor Gericht. Um Schwierigkeiten, die man mit Kaufhäusern oder den öffentlichen Verkehrsbetrieben hat, kümmern sich in den meisten Fällen schon entsprechende Abteilungen in den jeweiligen Firmen.

Lassen sich diese Probleme nicht zur beiderseitigen Zufriedenheit lösen, kann man immer noch vor Gericht ziehen. Und genauso läuft das auch im Cyberspace ab, nur vielleicht komplexer, da unter Umständen fünf verschiedene Rechtsprechungen als Grundlage für die Auseinandersetzung herangezogen werden. Diese Art von Komplexität ist Gerichten vielleicht noch unbekannt.

TR: Und welches Gesetz aus welchem Land zählt?

Lessig: Die internationalen Gesetze sind noch nicht auf diesen Fall ausgelegt, dass Leute aus der ganzen Welt grenzübergreifenden virtuellen Handel betreiben, doch die Grundlage bildet das internationale Privatrecht.

TR: Wie stark wird die echte Welt durch die virtuelle Welt beeinflusst?

Lessig: Ich glaube, es wird immer mehr Berührungspunkte geben. Der Umgang mit bestimmten Dingen im Cyberspace greift auf die echte Welt über. Ich hoffe, die Leute sind reif genug um zu begreifen, wie sie damit umgehen müssen und welche Probleme in diesem Zusammenhang auftreten können, glaube aber, diese Entwicklung lässt sich kaum vermeiden.

TR: Wie sehen Sie die Zukunft der Cyber-Welten?

Lessig: Immer mehr Leute werden diese Welten zu einem Teil ihres Lebens machen, den sie nicht mehr missen möchten. Der Cyberspace wird sogar dem Fernsehen den Rang ablaufen! Und es wird viel Erklärungsbedarf darüber entstehen, wie sich die verschiedenen Aspekte der Cyberwelten mit den normalen Gesetzen in Einklang bringen lassen. (Übersetzung: Nicole Schreiber) /

(Langfassung eines Interviews aus TR 07/07. Mehr zum Thema finden Sie im Fokus "3D-Internet" dieser Ausgabe, die Sie hier [1] bestellen können.) (bsc [2])


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