zurück zum Artikel

Corona: Die (Ohn-)Macht der Zahlen

Andreas Stiller

(Bild: triocean/Shutterstock.com)

Eine differenzierte Datenerhebung bei der Ermittlung von Corona-Infektionen sei notwendig, um die Situationen besser einschätzen zu können. Ein Kommentar.

Nun galoppieren völlig überraschend die Corona-Zahlen wieder steil bergauf, als wäre es nicht so, dass zahlreiche Epidemio- und Virologen genau das schon lange Zeit vorhergesagt hätten. Und so hatte man eigentlich viel Zeit, sich darauf vorzubereiten: Die Impfzentren wurden geschlossen, Tests kostenpflichtig, Maskenpflicht hier und da in Schulen abgeschafft, Stadien und Hallen dank 2G wieder mit üblicherweise laut brüllenden, maskenlosen Fans voll belegt – Scheinsicherheit durch 2G, so Virologe Schmidt-Chanasit dazu im Deutschlandfunk. Und mehr noch: die Krankenhausbetten in den Intensivstationen wurden abgebaut, es gibt keine Bettenprämien mehr, und statt mehr Pflegepersonal auf den Intensivstationen hat man jetzt weniger. "Einige gaben ihren Beruf gefrustet auf. Es fehlt an Wertschätzung und fairer Bezahlung. Den Kliniken droht ein Notstand." So meldete im Frühjahr 2021 der WDR und am letzten Sonntag die FAZ: "Lage auf den Intensivstationen ist eine Katastrophe" – Eine Katastrophe mit Ansage.

Ein Kommentar von Andreas Stiller

Andreas Stiller, bislang dienstältester Redakteur in der c't- und heise-online-Redaktion, beschäftigt sich mit Prozessoren, High Performance Computing, hardwarenaher Programmierung, HPC-Programmierung und spannenden wissenschaftlichen Themen wie Gravitationswellen, CERN etc. Auch im wohlverdienten Ruhestand, den er Ende 2017 angetreten hat, kann er natürlich von diesen Themen nicht lassen.

Okay, Pflegenotstand auf den Intensivstationen gab es schon so gut wie immer, den beklagt die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) seit vielen Jahren. Doch es wird immer schlimmer: "20 Prozent der maximal betreibbaren High-Care-Betten, in denen Patienten invasiv beatmet werden können, wie sogar 35 Prozent der Low-Care-Betten auf Intensivstationen [sind] gesperrt.", so berichtete DIVI vor zwei Wochen im Ärzteblatt [1].

Wenn man ein Drittel der Betten sperrt, dann macht sich natürlich ein unnötiger Coronaanteil von derzeit 3,9 Prozent (Schleswig Holstein) bis hinauf zu 22,8 % (Thüringen) drastisch bemerkbar.

Immerhin kennt man ja die Schuldigen: die Ungeimpften. Man weiß, das sind nicht nur die verrückten Querdenker, sondern Impfskeptiker, denen, wie dem heftig gescholtenen Joshua Kimmich, verlässliche Zahlen und Langzeitstudien fehlen. Hinter diesen Schuldigen verstecken sich dann die Politiker aus Bund und den Ländern, sowie das beratende RKI. Doch Letzteres gerät immer mehr in die Schusslinie, etwa in die des Virologen Alexander Kekulé : "Die wissenschaftlichen Ratschläge, an die sich die Politiker lange Zeit gehalten haben, waren einfach schlecht". Das RKI habe "ein lange Liste an Leichen im Keller", so Kekulé in einem ntv-Interview.

Der absolute Kardinalfehler, die "Ursünde der Pandemie", sei es gewesen, am Anfang zu erklären, dass das Coronavirus nicht so schlimm sei. Nicht mal so schlimm wie die gewöhnliche Grippe. Darauf bauen die Impfskeptiker heute noch auf.

Dann habe das RKI Masken zunächst "als Keimschleudern abgetan". Schulschließungen, die bereits im März 2020 als "Corona-Ferien" im Raum standen, seien abgelehnt worden. "Schnelltests lehnte man ab, weil sie angeblich nur falsche Sicherheit brächten. Einreisekontrollen an den Flughäfen? Ebenfalls Fehlanzeige. Die Corona-Warn-App, die unter Federführung des RKI entwickelt wurde, ist völlig wirkungslos geblieben. Dann die Daten und falschen Prognosen zum Pandemieverlauf, das ist ein Trauerspiel".

Der Medizin-Statistiker Gerd Antes mahnte zum Jahresanfang endlich eine differenzierte Datenerhebung bei der Ermittlung von Corona-Infektionen an: "Wir sind immer noch im Blindflug unterwegs".

Und wen wundert's, so blind fliegen wir auch heute noch. Statt regelmäßig ordentliche repräsentative Erhebungen durchzuführen, gibt's allenfalls regelmäßige Telefonumfragen unter 1000 Leuten zum Impfstatus (Impfquoten-Monitoring COVIMO), die "obendrein alle gut Deutsch sprechen" müssen.

Um die Ungeimpften zu überzeugen, veröffentlicht das RKI seit September differenzierte Inzidenz- und Hospitalisierungswerte für Geimpfte und Ungeimpfte, allerdings nur im vierwöchentlichen Abstand, was angesichts der aktuellen Steigerungsraten doch recht dürftig erscheint.

Leider nur vierwöchentlich: die Inzidenzen für geimpfte und ungeimpfte, symptomatisch Erkrankte im Vergleich.

Immerhin haben die RKI-Statistiker dabei halbwegs vergleichbare Werte aufgelistet, nämlich Inzidenzen beschränkt auf Fälle mit klinischer Symptomatik, also nicht die "normalen" täglich veröffentlichten Inzidenzen allein auf Basis von PCR-Tests. Das geschieht schlicht deshalb, weil man die normalen Inzidenzen von den Geimpften gar nicht kennt, da die sich nur selten ohne Symptome testen lassen, weil sie es ja nicht müssen. Das hinderte das ein oder andere Bundesland keineswegs daran, trotzdem solche schrägen Inzidenzvergleiche anzustellen. Hat das RKI bei den symptomatischen Inzidenzwerten der Erwachsenen einen Unterschied im Sommer von Faktor 5 und Anfang Oktober um Faktor 3 ausgemacht, so lagen die Länder bei Faktor 11 (Sachsen-Anhalt) bis 23 (Hamburg). Solche durchsichtigen Taschenspielertricks führen aber kaum dazu, Impfskeptiker zu überzeugen, eher das Gegenteil.

Die Inzidenzen der Bundesländer je Impfstatus
Bundesland Inzidenz Ungeimpfte Inzidenz Geimpfte Verhältnis
Baden-Württemberg 122,5 10,1 12,12
Bayern 110,5 9,18 12,04
Hamburg* 78,12 3,36 23,25
Sachsen-Anhalt 29,8 2,8 10,64
Schleswig-Holstein 104,2 8,8 11,8
Schräge Vergleiche der Inzidenzen zwischen Geimpften und Ungeimpften bei einigen Ländern

Doch dann stellt sich die Frage, warum das RKI von den tatsächlichen Inzidenzen und von der Dunkelziffer so wenig weiß und weiter im Blindflug unterwegs ist? Vom RKI hörte man dazu in diesem Jahr wenig, das letzte zum Thema waren im Juni ein paar Nachträge zu den ersten Ergebnissen der Studie "Corona-Monitoring bundesweit (RKI-SOEP)", die bis November 2020 lief.

Aber hier und da übernahm das ein oder anderen Institut diesen Job, so etwa die Uni Mainz mit der Gutenbergstudie, die im Oktober 2020 startete und bis Frühjahr 2022 läuft und die mit einer Kohorte von immerhin 10.500 Teilnehmern im Raum Mainz eine der größten ihrer Art in Deutschland ist. Das Dashboard der Uni soll laufend mit aktuellen Zahlen aufgefrischt werden, – sonst bräuchte man ja kein Dashboard – nur mit einem letzten Eintrag vom 9. Juli ist es auch hier mit der Aktualität so eine Sache. Immerhin erbrachten die ersten Ergebnisse eine höhere Dunkelziffer als das RKI zuvor, nämlich, dass bis dahin zumindest in Rheinhessen auf 10 erkannten Infektionen noch acht unerkannte kommen sollen, also eine Dunkelziffer von 1,8.

Der rührige Virologe Hendrik Streeck hat derweil eine Studie mit weitaus kleinerer Kohorte in Rheinbach, Raum Bonn, in Arbeit, die etwa bis Ende des Jahres läuft und vermutlich irgendwann im nächsten Jahr, wenn die Pandemie hoffentlich vorbei ist, hat man dann Resultate. Mit voreiligen Resultaten hat Streeck ja in der Heinsbergstudie schlechte Erfahrungen gemacht. Da gab es falsche Zahlen in der ersten Presseveröffentlichung und eine wagemutige Hochrechnung, die auf der Basis von lediglich sieben Todesfällen in Gangelt über den Umweg der Infection Fatality Rate (IFR) auf die Dunkelziffer in der Bundesrepublik und eine mutmaßliche Infektionszahl von damals 1,8 Millionen Bürgern schloss. Da blutete das Herz des Statistikers, etwa das des Tübinger Statistikprofessors Philipp Berens: Bei dieser Ausgangslage könnten es auch eine Million oder fünf Millionen sein ... Dass die Prävalenzzahlen in Gangelt wegen fehlender Bestätigungsdiagnostik bei der Antikörpermessung ohnehin nicht ganz korrekt waren und später nach unten korrigiert werden mussten [2], ist noch ein anderes Thema.

Wie so eine Studie richtig aussehen müsste, führt uns England und das Imperial College in London schon seit eineinhalb Jahren vor. Dort werden regelmäßig statistisch repräsentative Echtzeitdaten für England (also nicht für ganz Großbritannien) erhoben: REACT-1, Real-time Assessment of Community Transmission [3]. Seit Mai 2020, schreibt man monatlich bis zu 860.000 (!) englische Bürger an, von denen allerdings im Schnitt nur 20 Prozent (leider mit deutlich abnehmender Tendenz) ihre Bereitschaft erklärten, an dem Test teilzunehmen. Diese bekommen ein PCR-Testkit zugeschickt, und die zumeist mehr als 100.000 Stäbchen wurden anfangs abgeholt und gekühlt zu den Laboren transportiert. Inzwischen hat sich gezeigt, dass ein normaler Transport per Post keine schlechteren Ergebnisse liefert. Parallel dazu hatte man ein zweites Programm namens REACT -2 [4] aufgelegt, das bis zu 200.000 Selbsttests monatlich verschickte. Die letzte REACT-2-Runde war aber schon im Juni 2021

Am 4. November hat das Imperial College die vorläufigen Ergebnisse von REACT-1, Runde 15a mit 67.000 Proben, die vom 19. bis 29. Oktober ausgewertet wurden, veröffentlicht – nur wenige Tage nach Ende der Messperiode, davon kann man hierzulande nur träumen. Mit solchen frühzeitig ermittelten, belastbaren Zahlen könnten die Politiker sehr zeitnah reagieren. Das ist wohl auch dringend nötig, denn die Studie ergab dramatische Werte. Denn im Schnitt war jeder 58. Engländer infiziert, so hoch lag der Wert noch nie [5]. Darüber hinaus gibts noch deutlich krassere Werte, je nach Wohnort, Geschlecht und so weiter, etwa 1:35 in Southwest. Besonders schlimm traf es die Kinder: Jedes 17. Schulkind (sowohl bei den 5-12-Jährigen, als auch bei den 13-18-Jährigen) war infiziert, mit anderen Worten, in jeder Schulklasse im Primärbereich haben im Schnitt 1,5 Kinder "Corona".

Rechnet man die Prävalenzwerte über 11 Tage grob auf die übliche 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 um, so kommt man auf 1100 für alle bzw. 3700 für die Kinder. Die veröffentlichte Sieben-Tage-Inzidenz von England lag am 24. Oktober bei ihrem aktuellen Höchstwert von 497, fällt seitdem wieder (362 am 12. November). Das ergibt eine Dunkelziffer von 2,2

Dank der zusätzlich erhobenen Daten kann man diverse weitere Schlüsse ziehen, etwa weitere Gründe für die hohe Infektionsrate bei Kindern ausmachen. Zum Beispiel die Haushaltsgröße. Im Single-Haushalt ist das Infektionsrisiko viermal geringer als in Haushalten mit fünf oder sechs Personen und Schulkinder leben nun mal üblicherweise nicht in Single-Haushalten. Hatte man Kontakt zu einer infizierten Person, so stieg das Risiko um den Faktor 12 und so weiter.

Hochinteressant sind auch die in Runde 14 vom September angegebenen Zahlen zu den Impfdurchbrüchen: bis 3 Monate nach der zweiten Impfung waren 0,35 Prozent infiziert, zwischen 3 und 6 Monaten dann schon 0,55 Prozent: ein klares Signal für eine frühe Boosterimpfung auch für jüngere Leute. Angesichts dieser Zahlen muss man darüber nachdenken, die Zeit bis zur Boosterimpfung noch zu verkürzen.

In der vorläufigen Auswertung der Runde15a fehlen solche Zahlen noch, ebenso wie ein Vergleich der Prävalenzen von Ungeimpften und Geimpften. Wie Mitautorin Prof. Christl Donelly jedoch heise online mitteilte, will man diese im "full report" nachtragen. Bei den Ergebnissen im August und September waren die Prävalenzen der Ungeimpften jedenfalls – ähnlich wie bei den RKI-Werten – dreimal so hoch wie die der vollständig Geimpften.

Leider kann man die englischen Werte nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen, man müsste hier schon selber tätig werden. Solche Werte wären ausgesprochen hilfreich für die Beurteilung der tatsächlichen Lage, sonst fliegt man weiter im Blindflug. Die Koalitionsverhandlungen laufen ja noch, vielleicht sollte man dort ein vom Gesundheitsministerium finanziertes Programm à la REACT-1 beschließen. Dann könnte man auch gleich das RKI anweisen, in die täglich veröffentlichen Fallzahlen nicht mehr alle Korrekturen und Nachmeldungen hineinzurechnen, sondern nur noch solche, die sich auf die letzten 7 Meldetage beziehen.

Bislang rechnet das RKI nämlich Korrekturen und Nachträge zum Teil auch aus "uralter Zeit" in die aktuellen Fallzahlen hinein [6], was zur Beurteilung der aktuellen Lage völliger Blödsinn ist und nur für Intransparenz sorgt. Durch die Beschränkung von Korrekturen und Nachträge auf die letzten sieben Meldetage wären die veröffentlichten Inzidenzen auch transparent für jedermann nachzuvollziehen, einfach aus der Fallsumme der letzten 7 Tage geteilt durch 7.

An dem langen per § 11 des Infektionsschutzgesetzes erlaubten Verzug der Übermittlung von den Landkreisen [7] über die Landesgesundheitsämter bis hin zum RKI kann das RKI nichts, hier wäre gegebenenfalls eine Gesetzesänderung sinnvoll, die bei aktuell grassierenden Pandemien schnellere Übermittlungen einfordert.

So verbleibt also als Forderung:

(bme [8])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6266148

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/128191/Schon-heute-ein-Drittel-der-Betten-auf-Intensivstationen-gesperrt
[2] https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/JoHM/Korrekturen/Corrigendum_2020_S5.html
[3] https://www.imperial.ac.uk/medicine/research-and-impact/groups/react-study/the-react-1-programme/
[4] https://www.imperial.ac.uk/medicine/research-and-impact/groups/react-study/the-react-2-programme/
[5] https://www.imperial.ac.uk/news/231715/react-study-records-highest-coronavirus-prevalence/
[6] https://www.heise.de/meinung/Corona-das-neue-Infektionsschutzgesetz-und-die-Krux-mit-Sieben-Tage-Inzidenzen-6027227.html
[7] https://www.heise.de/news/Coronavirus-Fallzahlen-und-der-Amtsschimmel-4683120.html
[8] mailto:bme@heise.de