Die Weitreiche der Reichweite (IV.): Perrows normale Katastrophen
Kleine Ursachen können große Wirkungen haben – das zeigt sich besonders in hochkomplexen Systemen. Da sind Findungsgeist und Spontaneität gefragt.
Vielleicht sollte ich doch wirklich einmal ernst machen mit einem Digital Detox, den ich vor knapp zwei Jahren an dieser Stelle ausfabulierte? Bis nach Verden hatte sich erwiesen, dass alt hergebrachte Kommunikation immer noch funktioniert, sogar sehr gut und ĂĽber den eigentlichen Zweck der Informationsgewinnung hinaus andere, mitmenschliche Ebenen erfasst. Weit mehr als die Buchstabendengelei in den Messengern und "sozialen" Netzen.
Eine Landpartie mit Abschweifungen, kleinräumiges Reisen, der Mittelpunkt der Welt und spontaner Findungsgeist: Über komplexe Systeme, kleine Ursachen mit großen Wirkungen und komplizierte Fragen, die meist keine einfachen Antworten kennen. Ein Vierteiler (nicht nur) zu Weihnachten auf heise online.
Erfahrungen, die ich als nunmehr Mitt-50er in jungen Jahren selbst längst gemacht hatte, die aber hinter den Touchscreens verschüttet wurden. Sie sind an den nostalgischen Ecken des Web unter dem Motto "Du bist in den 60ern aufgewachsen" oder ähnlich nachzulesen: breite Krawatten, Toast Hawaii, Plumpaquatsch, Gummitwist, Schallplatten, der Cord- oder Nietenhosenschlag in der Fahrradkette und natürlich haben wir Kinder uns nicht "verabredet", schon gar nicht telefonisch, wir sind einfach zu unseren Häusern gestiefelt und haben geklingelt.
"Du bist in den 2010ern aufgewachsen" wird einen ganz anderen Anklang haben, da die Heranwachsenden keinen Abschlussball der Tanzschule absolvierten, im Unterricht frieren mussten, wenn er ĂĽberhaupt in physischer Anwesenheit von Lehrern und SchĂĽlern verabreicht wurde, sie nicht einfach mit Freunden im Park herumlungern konnten und ihre Eltern sehr intensiv kennenlernten. Viele haben ein Notabitur in der Tasche, das Zeugnis wurde ihnen nicht feierlich ĂĽberreicht und sie konnten auch nicht anschlieĂźend an die bulgarische KĂĽste, Mallorca oder an den Plattensee fahren und feiern.
Atom vs. Kern
Es kommt immer seltener vor, dass mich ein Passant nach einer Straße fragt und ich antworte: "Da gehen sie etwa bis zur zweiten Ampel, die Sie dort hinten sehen, biegen dann rechts ein und laufen bis zur nächsten größeren Kreuzung." Wenn mich doch noch jemand fragt, dann sind es Spezialangelegenheiten wie beispielsweise nach dem nächsten Paketshop und wann er geöffnet habe. Wenn ich das nicht aus dem Kopf weiß, hole ich meinen Ersatzkopf aus der Jackentasche. An diesem heißen Dienstag hatte er mir seine Dienste als Sicherheit versagt, ebenso die Absicherung der Sicherheit in Form der Powerbank.
In den frühen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigten mich im Zuge meiner Magisterarbeit auf der Suche nach Hinweisen, wie sich seit den späten 60er bis hin zu der Zeit kurz nach dem Super-GAU von Tschernobyl die Berichterstattung des Spiegels zur Atomkraft gewandelt hatte – die ich im Längsschnitt als Indikator für einen allgemeinen Einstellungswandel hernehmen wollte – techniksoziologische Fragen. Ich stieß auf die "Normalen Katastrophen" des Organisationstheoretikers Charles Perrows, auf ein Buch, in dem er die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik anhand von Atomkraftwerken, petrochemischen Anlagen, Großtankern oder dem Luftverkehr thematisierte und die trotz oder gerade wegen redundanter sicherheitstechnischer Vorkehrungen weiterbestehen.
Wenn Perrow noch leben würde – er starb im November 2019 im Alter von 94 Jahren –, hätte ihn bestimmt ein Vorfall interessiert, der sich kürzlich im finnischen Olkiluoto ereignete. Der dortige Atomreaktor wurde automatisch schnellabgeschaltet, nachdem in der Dampfleitung erhöhte Radioaktivität festgestellt wurde. Der Bericht über den Hergang des Störfalls legt anschaulich dar, dass auch vermeintlich geringfügige Ursachen größere Folgen haben können. So wie eine Glasscherbe eine Bahnstrecke lahmlegen kann, mich dazu bringen, auf den Busverkehr umzusteigen, Land und Leute zu erkunden, umso mehr, da ja mein iPhone-Akku samt Reserve ausgefallen waren.
Bemerkenswert übrigens, dass der Übersetzer der "Normalen Katastrophen" aus dem Englischen, Udo Rennert trachtete, den Begriff Groß-"technik" zu verwenden und nicht den mittlerweile wohl auch durch die Wortklingelei der Pressemitteilungen von Marketingabteilungen in Unternehmen inflationierten "Technologie". Das entspricht meinem subjektiven Eindruck aus 22 Jahren Berufserfahrung als Online-Redakteur. Googles Wörterzählung Ngrams zeigt andere Tendenzen auf, allerdings beschränkt sie sich auf gedruckte Werke. Von daher ist wohl auch zu erklären, dass dort nicht ablesbar ist, wie die Zeitgleichigkeit die Gleichzeitigkeit in den Medien immer mehr in den Orkus drängt und ich mit jedem Mal, an dem Jan Hofer "zeitgleich" sagte, Abschied nahm.
Lebendiger Wandel
Vielleicht ist aber Jan Hofer, der vergangene Woche Montag seinen Abschied als Chefsprecher der Tagesschau nahm und der gut zwölf Jahre älter als ich ist, im Kopf jugendlicher als ich geblieben. Vielleicht kann er ohne Wimpernzucken den Sprachwandel nachvollziehen, wenn sich mir öfters die Stirn kraust. Während der Olympischen Winterspiele Pyeongchang 2018 hatte ich sehr oft allergisch reagiert, dabei wird das Wort "zeitgleich" ausgerechnet während Ski- oder Bobrennen immer richtig benutzt, denn die Teilnehmer fahren ja nicht alle gleichzeitig, aber auch mal gleich schnell.
Sprachen sind lebendig und wandeln sich ständig. Als Sprachhandwerker meine ich aber ein gewichtiges Argument zu haben, dem Wandel auch einmal Einhalt zu gebieten: Wie werden wir künftig Gleichzeitigkeit von Zeitgleiche unterscheiden, wenn das Wort "gleichzeitig" verschwunden ist? Nun werden möglicherweise Leser ins Archiv von heise online gehen und nicht wenige sprachliche Schnitzer ausgraben, die ich in den vergangenen 19 Jahren verbockt habe. Wenn ich selbst einmal eine meiner älteren Meldungen sehe, wundere ich mich mitunter über manch falsch gewähltes Wort oder eine holprige Formulierung. Andererseits zeigt es mir aber auch, dass nicht nur der gesellschaftliche Sprachgebrauch, sondern auch der individuelle in ständigem Wandel begriffen ist. Auch noch mit 56 Jahren.
Bei meinem Smartphone und der Powerbank handelt es sich nicht gerade um "Großtechnik", aber mit den Geräten fügte ich mich mit der Deutschen Bahn in ein eng gekoppeltes und hochkomplexes System ein. Mein "tiefgestaffeltes Sicherheitssystem" – wie es Perrow benannte –, das Handy bei jeder Gelegenheit aufzuladen und auch die Reserve einsatzbereit zu halten, um für Sonderfälle wie den an diesem Dienstag eingetretenen auf digitalem Weg notwendige Informationen zu erhalten, hatte versagt.
Trivialen Komponenten eines hochkomplexen Systems bleiben aber andere Möglichkeiten offen, so wie einmal, als ich in Hannover im ICE saß und nach Bremen fahren wollte, aber der Zug verharrte. Er war auch verdächtig leer, möglicherweise hatte ich eine Durchsage verpasst oder eine Anzeige auf der Tafel am Bahnsteig nicht beachtet. Ich ging den Wagen entlang zum Schaffner, der zusammenzuckte, vermutlich in der Erwartung, er würde nun mit einer Beschwerde bedacht. Ich fragte ihn behutsam, was denn los sei. "Hier in Hannover haben wir immer Personalwechsel", sagte der Mann mit langsam entspannenden Gesichtszügen. "Das frische Personal sollte eigentlich längst mit dem Zug aus Bremen eingetroffen sein, aber die Strecke ist aus der Richtung gesperrt. Also sind sie nun in einem Auto unterwegs, gerieten aber auf der Autobahn in einen Stau."
Hort der Nostalgie
Als ich damals mit der Magisterarbeit beschäftigt war, lag mir das Archiv des Spiegel nicht elektronisch vor, sondern als gebundene Jahrgänge, die ich in der Universitätsbibliothek Bremen nach sämtlichen Artikeln zur Atomkraft durchsuchte und diese fotokopierte, um ihre Inhalte zuhause nach zuvor festgelegten qualitativen und quantitativen Kriterien zu analysieren. Meine Zählung per Hand ergab, dass mit der Zeit der Begriff "Atom" zunehmend durch "Kern" ersetzt wurde. Offenbar versuchte die Atomindustrie der auch durch den wachsenden Widerstand gegen diese industrielle Form der Energieumwandlung mitwachsenden Konnotation mit "Atomwaffen" und "Atomkrieg" gegenzusteuern. Heutzutage wäre Franz Josef Strauß Kernminister geworden.
Die Universität, auch ein Hort der Nostalgie. Kurz nachdem ich meinen Magister in der Tasche hatte, wurden in der dortigen Bibliothek die Mikrofiches mit den Bücherkatalogen mit Computern und ihren Datenbanken ergänzt und die Straßenbahnlinie bis zum Campus der Universität verlängert. Überhaupt wurde die Infrastruktur wesentlich verbessert, es gibt dort nun mehr Einkaufsgelegenheiten und freundlichere Mahlzeiten, die Betonwüste aus den 70er Jahren erträglicher umgestaltet. Als ich voriges Jahr nach langer Zeit wieder einmal den Universitätsboulevard entlangschlenderte, staunte ich nicht schlecht. Mir machte es sogar Appetit, meine Promotion nachzuholen. Warum? Frei nach dem Motto des neuseeländischen Bergsteigers Sir Edmund Hillary, der auf die Frage, warum er auf hohe Berge steigt: "Weil sie da sind."
Dort oben auf dem Gipfel des Mount Everest, den Hillary zusammen mit Tenzing Norgay 1953 bestieg, ist es kalt und windig, auf der Norddeutschen Tiefebene im Spätaugust 2019 war es windstill und muckelig warm. Die Sonne hing schräg, der Bus zuckelte über die Land- und Bundesstraßen, Häuser, Bäume und Felder zogen vorbei, der Fahrer hörte sein Radio Niedersachsen, ich ließ den Blick schweifen und die Augen ihre Ernte einfahren. Viele Menschen wollen in möglichst kurzer Zeit möglichst weit kommen, am liebsten ins Warme, damit sie dort herausgekommen sein können aus dem schnellen Alltag. Dabei liegt die vielgelobte Entschleunigung doch so nahe.
Mach Dir keine Pläne, sondern nutze die Gelegenheiten, heißt es – falls ich die Lebenshinweise der Shaolin richtig verstanden habe. Ob sie zu dieser Erkenntnis gekommen wären, wenn sie einen Computer besessen hätten und nur "mal eben" ein Update machen wollten, dann aber in einen Loop geraten wären?
Mit Verden – eine Stadt, die unkundige Zugbegleiter "Werden" mit Vogel-W durchsprechen – hatte ich nach Nienburg die nächstgrößere Gemeinde erreicht – sogar mit einem Dom ausgestattet –, von der aus ich ohne Probleme mit der Buslinie 740 nach Bremen gelangen könnte; er würde über Achim fahren. Spontan entschied ich mich um, in der Gemeinde kurz vor den Toren Bremens auszusteigen um meine Liebste an ihrer Arbeitsstätte nahe dem Bahnhof zu überraschen. Als ich aus dem Bus ausstieg, traf ein Regionalexpress aus Hannover ein. Die Bahnstrecke war wieder frei.
(anw)