Ein Jahr ChatGPT: "Schaut her, wir haben die Zukunft erfunden!"

Noch beeindruckender als die Antworten der KI ist der mediale Hype, den OpenAI vor einem Jahr mit ChatGPT ausgelöst hat, meint c't-Redakteur Hartmut Gieselmann.

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(Bild: Midjourney)

Lesezeit: 5 Min.
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Kein IT-Unternehmen hat in den vergangenen zwölf Monaten einen derart raketenartigen Start hingelegt wie OpenAI. Ein paar Tweets und ein Chatbot genügten, um ChatGPT über die Grenzen der IT-Presse hinaus weltweit bekannt zu machen. Nach nur sechs Monaten hatte die Website von ChatGPT im Mai angeblich zwei Milliarden Zugriffe. Danach flaute es wieder ab, bis es pünktlich zum Jubiläum wieder turbulent zuging. In ein paar Jahren – ach was, in ein paar Monaten – wird man sich die Geschichte bestimmt als Doku-Drama auf Netflix anschauen können.

Ähnlich dürfte seinerzeit der Medienrummel um Wolfgang von Kempelen gewesen sein, als er vor 250 Jahren seinen Schachtürken staunenden Adelsgesichtern präsentierte. Die Konstruktion der Maschine war so kompliziert, dass es Jahre dauerte, bis der Betrug aufflog. Genauso kommen heute weder die Wissenschaftler mit dem Testen neuer KI-Funktionen noch die Parlamente mit der Regulierung hinterher, wenn irgendein Start-up seine neue KI-Sensation an die Öffentlichkeit posaunt.

Sicherlich hat ChatGPT dazu beigetragen, dass nun jeder seine eigenen Erfahrungen mit dem abstrakten und schwammigen Begriff der Künstlichen Intelligenz machen kann. Doch der Durchblick wird mehr und mehr verstellt: Das "Open" in OpenAI ist nur noch Augenwischerei. Denn Transparenz ist nicht gut fürs Geschäft, wenn man bei all der Konkurrenz vorne bleiben will.

Ein Kommentar von Hartmut Gieselmann

Redakteur Hartmut Gieselmann, Jahrgang 1971, ist seit 2001 bei c't. Er leitet das Ressort Anwendungen, Datenschutz & Internet und bearbeitet unter anderem aktuelle Themen rund um die Bereiche Medizin-IT, Netzpolitik und Datenschutz.

Meister des "Wir kündigen erstmal an, damit die Aktien steigen, liefern vielleicht später" ist Microsoft, der große Geldgeber im Hintergrund von OpenAI. Die Finanzkraft des Konzerns übertrifft die europäischer Unternehmen oder Forschungseinrichtungen bei weitem. Und mithilfe von KI wird diese Machtkonzentration mit riesigen Datenmengen und Serverfarmen weiter wachsen. Verantwortlich für diese geniale Marketingstrategie ist Chris Capossela, der zehn Jahre lang Microsofts Werbechef war. Auch ihm sollte Netflix eine Serie widmen.

Die neueste Entwicklung von OpenAI, konfigurierbare GPTs, ist eigentlich nichts anderes als ein bequemerer Weg, ChatGPT über speicherbare Anweisungen bestimmte Rollen zuzuweisen. Der Clou ist, dass man nun auch große Dateien zu OpenAI hochladen und mit ChatGPT auswerten kann. Der Haken versteckt sich im Kleingedruckten der Datenschutzerklärung, die erst seit kurzem überhaupt auf Deutsch vorliegt. Denn alles, was man als Input zu ChatGPT hochlädt, kann OpenAI zum Training verwenden. Wer das nicht will, muss es im Setup deaktivieren. Damit verzichtet er aber auch darauf, seine ChatGPT-Chats zu protokollieren, weshalb es wahrscheinlich die wenigsten deaktivieren. Ich möchte nicht wissen, wie viele interne Geschäftsberichte und Strategiepapiere Minute für Minute auf ChatGPT hochgeladen werden, um sie dann von der KI zusammenfassen oder auswerten zu lassen.

Die Ergebnisse sind meiner Erfahrung nach bestenfalls mittelmäßig und enthalten viele Allgemeinplätze. Die KI kann in ihrer Analyse einige allgemeine Punkte auflisten, bleibt aber bei konkreten Details meist im Vagen, Unvollständigen oder zuweilen auch im schlichtweg Falschen. Sprach-KIs sind auf Masse statt Klasse getrimmt. Das ist auch der Grund, warum Werbetexter und Copywriter die ersten sind, die durch sie ersetzt werden. Der Nutzen für die Menschheit: Sie wird mit noch mehr Spam bombardiert und muss ihre Filter aufrüsten.

Gewinner dieses Wettlaufs sind die mit den größten Serverkapazitäten und Clickworker-Armeen für die Aufbereitung der Daten. Symptomatisch ist das brasilianische Start-up Inspira, das gerade mit einem KI-Assistenten für Juristen den Pitch-Wettbewerb des Web Summit gewonnen hat. Mit ihrer App sollen Anwälte künftig zehnmal mehr Fälle bearbeiten können. Das wird aber nicht dazu führen, dass Anwälte und Gerichte nur noch einen Vormittag in der Woche arbeiten oder zu 90 Prozent entlassen werden, sondern die Zahl der Fälle wird sich einfach verzehnfachen, weil Abmahnkanzleien solche Tools als erste nutzen werden. KIs wie ChatGPT nehmen uns keine Arbeit ab. Sie verdichten sie und schalten im Hamsterrad den nächsten Turbogang ein.

Doch diese Start-up-Szene, die rund um OpenAI ein symbiotisches Biotop bildet, ist in einer prekären Situation. Viele von ihnen sind auf Gedeih und Verderb auf OpenAI angewiesen, wenn sie ihre Anwendungen über die Programmierschnittstelle an GPT anbinden.

Gleichzeitig ist aber auch OpenAI darauf angewiesen, dass diese Startups Backends für ihre KI basteln. Denn OpenAI kann keine eigenen Benutzeroberflächen oder Shopsysteme entwickeln. Ein Blick auf das unkuratierte und völlig chaotische Plugin-Angebot von ChatGPT genügt.

Aber OpenAI hat die alleinige Kontrolle. Es kann von einem Tag auf den anderen alles über den Haufen werfen, den Chef entlassen oder eine Meuterei der gesamten Belegschaft heraufbeschwören. Die Turbulenzen der letzten Tage sollten jeden alarmieren, dessen Geschäftsmodell von der Zusammenarbeit mit OpenAI abhängt. Solange so viel Geld im Spiel ist, wird sich die Situation kaum beruhigen.

Deshalb bin ich pessimistisch, dass der Markt den wilden KI-Westen regeln wird. Denn durch den enormen Ressourcenhunger stärkt KI die Position der großen Konzerne und Gatekeeper.

Wenn das EU-Parlament also nächste Woche erneut über den AI Act debattiert, kann man nur hoffen, dass sich die Regulatoren durchsetzen. Das Timing für die Posse um Sam Altmann hätte nicht besser sein können, um auch den letzten Zweiflern zu zeigen: Die KI-Konzerne sind den Geistern, die sie riefen, nicht gewachsen.

(hag)