Hockey-Stick-Kapitalismus der Emotionen: Wie kommen wir da wieder raus?

Wer heute über Futurismus spricht, dann meist mit der Ausrichtung "retro". Dabei brauchen wir endlich wieder Visionen für eine bessere Welt von morgen.

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(Bild: Jorm S / Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Stephan Dörner
Inhaltsverzeichnis

Nicht nur in Kultur und Politik ist Nostalgie angesagt – auch für Bereiche, in denen der Vergangenheitsbezug am wenigsten passt: Utopien und Visionen. Retrofuturismus nennt sich das Schwelgen in Erinnerung an eine bessere Zukunft. Und die Ästhetik eines Retrofuturismus aus den 60er bis 80er Jahren lässt sich überall beobachten.

Die Zukunft der Vergangenheit – also unsere Gegenwart – ist nicht so, wie es sich viele offenbar erhofft haben. Das ist auch nicht ungewöhnlich, denn Zukunftsvisionen zeichnen sich auch dadurch aus, dass die meisten niemals eintreten. Jede Zeit neigt dazu, die aktuellen technischen Entwicklungen zu übertreiben und linear fortzuschreiben und kommt damit zu falschen Schlüssen.

Kolumne von Stephan Dörner

(Bild: 

Friederike Kalz (kalz-fotografie.de)

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Stephan Dörner ist ehemaliger Online-Chefredakteur von t3n und inzwischen Geschäftsführer und Kommunikationsberater bei der Kommunikationsberatung fph.

Kurz nach dem Durchbruch der Dampfmaschine imaginierten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von einer Zukunft, in der der gesamte Alltag von Dampf angetrieben wird. Die Dampfmaschine war ohne Zweifel eine Zäsur – das wurde kurz nach ihrem Durchbruch schon richtig erkannt. Ein Alltag, dominiert von allgegenwärtigen Dampfmaschinen, folgte dennoch nicht. Denn es kamen andere, bessere Technologien, die die industrialisierte Welt bis heute prägen. Auch das in den 1960er Jahren erwartete "Space Age", in der Weltraumfahrt so alltäglich werden sollte wie eine Reise nach Italien, trat nie ein.

Bei der digitalen Revolution ist es anders als bei Dampfmaschinen und Raumfahrt. Die Auswirkungen der Technologie in den meisten Zukunftsvisionen aus den 80ern und 90ern sind nicht übertrieben. Computer und das Internet haben nicht nur die Wirtschaft, sondern auch unseren Alltag tatsächlich tiefgreifend verändert.

In diesem Fall war es mit einer gewissen technischen Expertise gar nicht so falsch, die Entwicklung fortzuschreiben und daraus eine Zukunft abzuleiten – soziale und gesellschaftliche Folgen ausgeklammert. Chips wurden schneller, billiger, kleiner; Internet-Bandbreite wurde größer, zunehmend mobil, nahezu überall verfügbar und für immer mehr Menschen zugänglich.

Von dieser technischen Entwicklung ausgehend in der ersten Welle des Internets der 1990er so etwas wie Immobilienportale zu prognostizieren – wie es beispielsweise Bill Gates in seinem 1995 erschienenen Buch "The Road ahead" tat – war folgerichtig. Die große Kunst in dieser Zeit war nur aufs richtige Pferd zu setzen: Macht Amazon das Rennen oder eine der damals zahlreichen anderen Online-Bücher-Plattformen? Wird Google sich mit seinem technisch neuen Ansatz gegen Schwergewichte wie Altavista und Yahoo durchsetzen? Wird Microsoft sein Desktop-Monopol in die mobile Welt retten können oder ein anderer Player wie Apple und Google das Rennen machen, die ohne Ballast voll auf mobile Apps setzen?

Anders als von vielen Internet-Optimistinnen und -Optimisten der 1990er Jahre vorhergesagt, ist aber nach Auffassung vieler daraus keine dezentrale, demokratischere und bessere Welt entstanden. Das 1999 veröffentlichte Cluetrain-Manifest versprach eine vom Internet geprägte Welt, in der Hyperlinks Hierarchien untergraben und prophezeite menschliche Gemeinschaften mit Diskursen "aus menschlichen Gesprächen über menschliche Anliegen". Ein Blick auf Facebook oder Twitter heute reicht aus, um zur Feststellung zu kommen: Das war mindestens optimistisch, vielleicht sogar naiv.

Stattdessen folgte eine noch nie gekannte Machtkonzentration weniger, großer Plattformen und eine tiefe Polarisierung der Öffentlichkeit. Im Diskurs auf Plattformen wie Facebook und Twitter sind zivile Umgangsformen die Ausnahme. Auf einem bekannten Cover der US-Ausgabe von MIT Technology Review mit dem Gesicht des US-Astronauten Buzz Aldrin heißt es: "You promised me mars colonies. Instead I got Facebook" ("Ihr habt mir Mars-Kolonien versprochen, stattdessen bekam ich Facebook").