Kommentar: Corona-Impfung, Impfpriorisierung und das Recht des Stärkeren
Nun ist es vorbei mit der Impfpriorisierung: Theoretisch kann sich jeder die Impfung holen. Doch das Ende der Priorisierung ist eine gewaltige Mogelpackung.
Das Gespann aus den Verlockungen der Freiheit und dem Fehlen der begehrten Impfstoffe führt zu Frust. Das Gespräch über das Wetter hat die Frage nach den letzten Erfahrungen auf der Jagd nach dem Impfstoff abgelöst und es ist ein bisschen wie in der Supermarktschlange: Gefühlt ist die eigene Schlange immer die langsamste. Also wird gemauschelt, es werden persönliche Beziehungen ausgenutzt – das ist das Gegenteil von dem, was zu Beginn der Pandemie heraufbeschworen wurde: Solidarität mit den Schwachen und Gerechtigkeit.
Bis zum gestrigen Donnerstag hatten etwa 47 Prozent der Deutschen mindestens eine Impfdosis und knapp 24 Prozent waren durchgeimpft. Reicht das wirklich, um eine Priorisierung aufzuheben? Eigentlich wäre jetzt die Gruppe 3 dran: 60- bis 70-Jährige, medizinisch vorbelastete, systemrelevante Menschen von der Feuerwehr und der Polizei oder aus dem Lebensmitteleinzelhandel und noch ein paar andere. Also eine sowohl noch besonders gefährdete als auch schützenswerte Gruppe.
Warum wurde eigentlich priorisiert?
Und priorisiert wurde ja nicht etwa, damit die besonders Schutzbedürftigen rein logistisch zuerst abgearbeitet werden, sondern weil es schlicht nicht genügend Impfstoff für alle gibt. Das hat funktioniert. Natürlich wäre es schöner, selbst sofort geimpft zu werden – allerdings ist Fairness aus egozentrischer Sicht im Ergebnis nicht immer die ideale Lösung, fühlt sich aber dennoch gut an und macht das Warten erträglicher.
Diese absolut sinnvolle, faire Einteilung wird nun ohne Not gestrichen. Die Jungen sollen auch zum Zuge kommen, Sommerurlaub steht an, gleiches Recht für alle. Ab jetzt gilt vermeintlich das Recht des Stärkeren: Das sorgt dafür, dass Menschen auf allen Kanälen versuchen, an einem Impftermin zu kommen. Impfstoff gibt es deswegen trotzdem nicht mehr. Das Ganze hat einen faden Beigeschmack und ist vor allem erklärungsbedürftig in einer Zeit, die ohnehin schon viel zu unübersichtlich ist.
Das Aufheben der Impfpriorisierung fällt zudem zusammen mit einer Impfstrategie, die auf die Zweitimmunisierung in den Impfzentren setzt – weil zu wenig Impfstoff vorhanden ist. Dort findet die Masse des Impfgeschehens statt, dort geht das Groß der Impfdosen hin. Selbst wer derzeit noch in der Prio-Gruppe 3 ist und mit Erstimpfung „dran“ wäre, bekäme keine Impfung.
Praktisch ändert sich wenig
Warum also jetzt? Wollte sich unser Bundesgesundheitsminister beliebt machen, indem er größere Fortschritte suggeriert, als wir sie derzeit machen und für entspannte Sommerfreuden sorgen, könnte dieser Plan nach hinten losgehen. Praktisch ändert sich wenig, nur die Unsicherheit und Ungeduld nehmen zu. Verantwortungsvolle niedergelassen Ärzte folgen ohnehin weiter der Priorisierung – nur müssen sie jetzt mehr diskutieren.
Auch in einigen Bundesländern wie Schleswig-Holstein, Hamburg, Bayern und Saarland setzen die Impfzentren weiterhin auf das Impfen von Risikogruppen. Und ohnehin wird durch die Hintertür die Priorisierung bis Gruppe 3 zumindest für die aufrechterhalten, die sich schnell genug auf Wartelisten geschrieben haben.
Denn die Wartelisten in den Impfzentren werden der Reihenfolge nach abgearbeitet. Eine Aufhebung der Priorisierung wäre sinnvoll gewesen, wenn es Impfstoff und Termine im Überfluss gäbe. So wie die Freigabe des ungeliebten AstraZeneca-Impfstoffes dafür gesorgt hat, dass ungewollte Impfkontingente verimpft werden. Aber in einer Mangelsituation so zu tun, als könne sich jeder impfen lassen – was soll das? (bsc)