Kommentar: E-Patientenakte ist Einstieg in ein KI-gestütztes Gesundheitswesen

Bei der Einführung der elektronischen Patientenakte nur auf den Willen der Patienten zu setzen, wird nicht ausreichen, findet Dr. Willms Buhse.

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(Bild: amgun/Shutterstock.com)

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  • Dr. Willms Buhse

Seit zwei Jahren können alle gesetzlich Versicherten die elektronische Patientenakte (ePA) ihrer Krankenkassen erhalten. In der ePA werden Gesundheitsdaten, medizinische Befunde und Informationen aus vorhergehenden Untersuchungen und Behandlungen über Praxis- und Krankenhausgrenzen hinweg umfassend gespeichert . Doch außer "wäre", "hätte" und "könnte" ist in den zwei Jahren wenig passiert. Bisher wird die ePA deutlich zu wenig genutzt, damit ist sie ein trauriges Symbol für den Stand der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen.

Ein Kommentar von Willms Buhse

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Willms Buhse

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Herr Dr. Willms Buhse ist Gründer von doubleyuu und berät seit Jahren auch Krankenkassen wie die DAK.

Krankengeschichte, Medikamente, Unverträglichkeiten, Blutwerte, behandelnde Ärzte – in den meisten Fällen gehen diese Informationen immer noch in verstaubten Aktenordnern der Praxen und Kliniken verloren. Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen wurde bisher verfehlt. Auch die elektronische Patientenakte (ePA) wird ihrer Rolle als Vorreiterprojekt in Sachen digitaler Transformation des Gesundheitswesens nicht gerecht. Von den potenziell 73 Millionen gesetzlich Versicherten in Deutschland haben sich bisher nur 615.000 für eine ePA entschieden (Stand: Anfang März 2023) – weniger als ein Prozent. Noch haben die Patienten den Wert der ePA scheinbar nicht erkannt, aber auch in Kliniken und Praxen wird sie viel zu stiefmütterlich behandelt. Ein großer Fehler, denn die ePA kann Leben retten.

Warum? Die ePA ist ein zentraler Schritt zur digitalen Transformation des Gesundheitswesens. Leben und Gesundheit der Menschen in Deutschland könnten besser geschützt werden, wenn endlich die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen sinnvoll und flächendeckend genutzt würden. Eine aktuelle Studie der Barmer Krankenkasse hat beispielsweise ergeben, dass allein in Hamburg jährlich etwa 1.000 Todesfälle im Zusammenhang mit Arzneimitteltherapien vermieden werden könnten. Der Barmer Arzneimittelreport 2022 geht davon aus, dass bundesweit bis zu 70.000 Menschen nicht hätten sterben müssen, wenn alle behandelnden Ärzte über die Therapien und deren mögliche Wechselwirkungen informiert gewesen wären.

Nur wenn viele Menschen eine ePA nutzen und die Patientendaten für Forschungszwecke zur Verfügung stehen, lassen sich mit KI-Methoden Erkrankungen frühzeitig erkennen, Behandlungsprozesse individualisieren und optimieren. Künstliche Intelligenz könnte so unsere Gesundheitsversorgung insgesamt auf ein neues Niveau heben. In den vergangenen Jahren nimmt KI eine immer wichtigere Rolle bei der Diagnose, der Behandlung von Krankheiten und letztlich der Verbesserung der Behandlungseffizienz ein. Beispielsweise kann die KI bösartige Erkrankungen erkennen und diagnostizieren, indem sie Daten aus Computertomografie, Röntgenaufnahmen und anderen bildgebenden Verfahren verarbeitet. Mittels Anwendungen wie ChatGPT kann Arztdeutsch in leicht verständliche Sprache übersetzt werden. Die Potenziale sind längst nicht ausgeschöpft. Um das zu tun, benötigen wir die ePA flächendeckend.

Experten schätzen, dass der Einsatz künstlicher Intelligenz in Forschung, Verwaltung und Versorgung das gesamte Gesundheitswesen stark verändern wird. Die Vorteile liegen auf der Hand: Einerseits wird wertvolle Zeit eingespart und damit die Qualität der Versorgung erhöht – technisch wie auch menschlich. Wem die KI Aufgaben in der Diagnose, der Behandlung oder der Pflege abnimmt, der hat wieder mehr Zeit für die menschliche Seite der Medizin. Etwas, dass in den vergangenen Jahren an vielen Stellen und nicht nur aus der Sicht der Patienten zu kurz kommt.

Die technischen Möglichkeiten sind bereits da – und entwickeln sich in rasantem Tempo. Nur das Gesundheitswesen kommt nicht hinterher, wenn es darum geht, Gesundheitsdaten zum Zwecke besserer Gesundheitsversorgung zu sammeln, beispielsweise in der elektronischen Patientenakte und diese Daten gezielt für Forschung, Prävention, Diagnostik und Therapie verfügbar zu machen. Bei dem Vorhaben türmen sich dann bürokratische Hindernisse auf, die eine sinnvolle Datennutzung beinahe unmöglich machen. Länder wie Dänemark oder Estland, in denen ebenfalls die Datenschutzgrundverordnung gilt, sind uns in der Digitalisierung des Gesundheitswesens – wieder mal – Jahre voraus.

KI benötigt für belastbare Analysen qualitativ hochwertige Daten. Viele dieser Daten liegen bereits vor, nur nicht an der richtigen Stelle. Im Zweifel wissen Apple, Google und Meta sehr viel mehr über die Gesundheit ihrer Nutzer als deren Hausarzt. Datensparsamkeit ist ein Konzept der Vergangenheit. Es gilt, die Daten an einer Stelle zu zentralisieren und dort verantwortlich mit ihnen umzugehen. Diese Schnittstelle bietet die ePA. Das Gesundheitswesen darf diese Gelegenheit nicht verpassen, denn die Digitalisierung ist die größte Chance, unseren ineffizienten Gesundheitsbereich zukunftsfähig zu machen. Eine McKinsey-Studie hat ermittelt, dass durch die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens 42 Milliarden Euro pro Jahr eingespart werden könnten.

Warum wird die ePA trotz dieser Vorteile nicht angenommen? Das Problem ist aus meiner Sicht vielschichtig: neben verschiedenen – in der Regel emotionalen – Vorbehalten bezüglich des Datenschutzes, scheint die “Holschuld” eine Hürde zu sein. Bisher müssen Versicherte die ePA bisher bei ihren Krankenkassen in einem komplizierten Anmeldeprozess beantragen. Außerdem ist das Pflegen der Akte bisher mit viel Eigeninitiative aufseiten der Versicherten verbunden. Das soll sich ändern: 2024 wird die “ePA für alle” für alle Versicherten eingerichtet. Wer sie nicht möchte, muss aktiv widersprechen. Diese "Opt-Out-Lösung" ist aber kein Garant für das Gelingen des zentralen Digitalisierungsprojekts der Branche. Wie sichergestellt werden soll, dass die Versicherten den Mehrwert der ePA erkennen, ist aus meiner Sicht nicht genügend berücksichtigt. Nur auf den guten Willen der Versicherten zu setzen, wird sicherlich nicht ausreichen.

Wenn aber der Aufbau von Vertrauen in die digitale Patientenakte schon Jahre dauert, haben wir im Bereich KI noch einen (zu) langen Weg vor uns. Alle Akteure im Gesundheitswesen müssen zielorientiert zusammenarbeiten und bereit sein, sich auf Expertenwissen zu verlassen und das Tempo zu erhöhen, denn die Digitalisierung ermöglicht gänzlich neue Wege der Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten einerseits und Patientinnen und Patienten andererseits. Zum Nutzen unser aller Gesundheit.

(mack)