Kommentar: Ein Sieg für Assange, eine Niederlage für die Medienfreiheit

Nach 1901 Tagen Haft ist WikiLeaks-Gründer Assange frei. Ein Deal mit der US-Justiz machte es möglich – doch der Preis dafür ist hoch, meint Michael Sontheimer.

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Assange im Gespräch mit Sontheimer

Der Autor interviewt Julian Assange im Jahr 2017 in der ecuadorianischen Botschaft.

(Bild: Michael Sontheimer)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Michael Sontheimer
Inhaltsverzeichnis

"Wenn das Aufdecken von Verbrechen wie ein Verbrechen behandelt wird, dann werden wir von Verbrechern regiert". Das sagte der Ex-CIA-Mitarbeiter Edward Snowden. Und das haben der Whistleblower und Julian Assange mit seiner Enthüllungsplattform WikiLeaks der Welt vor Augen geführt. Sie haben gezeigt, dass die Regierung der USA, der militärischen Supermacht Nummer 1, ihre Geheimdienstmitarbeiter und Soldaten bedingungslos schützen will, wenn diese Gesetze brechen und Kriegsverbrechen begehen.

Assange erfand mit WikiLeaks im Internet eine technische Lösung für den Schutz von Informanten, der immer ein zentrales Problem des investigativen Journalismus ist; eine Lösung für die anonyme Einlieferung von Daten, die von zahlreichen Medien in aller Welt übernommen wurde. Dass wichtige WikiLeaks-Quellen wie Chelsea Manning und Joshua Schulte enttarnt und von US-Gerichten zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, lag nicht an Assange, sondern an diesen Quellen, die Kontakt mit WikiLeaks suchten oder sich selbst enttarnten.

Ein Kommentar von Michael Sontheimer

Michael Sontheimer (links) mit Julian Assange

(Bild: 

Michael Sontheimer

)

Michael Sontheimer hat seit 2010 über den Fall Assange berichtet. Er ist Historiker, taz-Mitgründer, für die er immer noch schreibt. Außerdem arbeitet er als Journalist für Spiegel und Zeit. Sontheimer ist Mitglied des Kuratoriums der taz Panter Stiftung.

Dass Assange Quellen verraten habe, gehört gleichwohl zu den Propagandamärchen, mit denen sein Ruf ruiniert werden sollte und die teils immer noch durch die Medien geistern. Dazu gehört auch, dass Assange und WikiLeaks bedenkenlos und ungeprüft riesige Mengen geheimer Dokumente ins Netz geschaufelt haben sollen – was falsch ist.

Für Assange war es eine Erlösung, dass seine US-Ankläger einen Deal anboten. Dankbar kann er dafür seinen Anwälten sein, die das US-Justizministerium in dem schier endlosen Auslieferungsverfahren vor englischen Gerichten an den Rand einer Niederlage gebracht hatten. Nur um einer gerichtsfesten Ablehnung einer Auslieferung an die USA zu entgehen, boten die US-Strafverfolger schließlich einen Deal an, der Assange nach 1901 Tagen in Einzelhaft die Freiheit bescherte.

Ebenfalls dankbar kann Assange seinen Unterstützern sein, die Spenden für 11 Millionen Euro Anwaltskosten und 5 Millionen für Kampagnen zusammenbrachten – ein weltweites Netzwerk aus Aktivistinnen und Aktivisten. Nach seiner Freilassung fordern Sie eine Begnadigung und Rehabilitierung für ihn.

Den Weg zur Freilassung hat die Regierung Australiens diplomatisch geebnet. "Bringt den Jungen nach Hause", wurde in seinem Heimatland zu einer populären Parole; der Premierminister Anthony Albanese erklärte ein ums andere Mal zu seiner andauernden Inhaftierung: "Enough is enough." Im Hintergrund handelten australische Diplomaten die Details des Deals aus.

Europäische Regierungen hatten praktisch keinen Anteil an Assanges Freilassung. Sie duckten sich jahrelang feige weg, wagten es nicht, den Rachefeldzug der US-Geheimdienste gegen WikiLeaks öffentlich zu kritisieren. Im Auswärtigen Amt wurde bis zum vergangenen Jahr Wert darauf gelegt, Assange nicht als Journalisten zu bezeichnen.

"Reporter ohne Grenzen" sprach über seine Freilassung als "historisches Ereignis", aber Assanges Tag der Befreiung war für die Freiheit der Medien nicht unbedingt ein guter Tag. Das lag daran, dass der australische Journalist sich gezwungen sah, einem Deal zuzustimmen, der ein Kompromiss mit der US-Justiz war und Bedingungen enthielt, die Assange in Freiheit nie so unterschrieben hätte.

Dass er künftig aus den USA abgeschoben wird, weil er kein US-Bürger ist, wird ihn nicht über die Maßen stören. Dass er sich verpflichten musste, alle US-Materialien, die noch im Besitz von WikiLeaks sind, zu zerstören, schon eher. Vor allem musste er, als erster Journalist überhaupt, einer Verurteilung nach dem US-Spionagegesetz von 1917 zustimmen, sich dieses Delikts für schuldig erklären. Ein Präzedenzfall, der Journalisten, die künftig mit US-Geheimdokumenten arbeiten, als Warnung dienen und abschreckende Wirkung entfalten wird.

Julian Assange hat einen erheblichen Preis für seine Freiheit und seine Gesundheit bezahlt. Dass er das nur zähneknirschend tat, machte er während der Gerichtsverhandlung auf den US-Marianen-Inseln klar, als er erklärte, dass er geglaubt habe, seine Tätigkeit sei durch das First Amendment der US-Verfassung gedeckt, das die Medienfreiheit garantiert. Sein Anwalt brachte ihn dazu, wieder einzulenken, doch Reue sieht anders aus. Seine Freunde erkannten sofort: Er ist noch immer der alte, kämpferische, mutige Julian. Für ihn steht WikiLeaks zu seinen Werten: Wahrheit, Transparenz, Medienfreiheit und Demokratie.

Niemand, der Assange besser kennt, kann sich vorstellen, dass er sich ins Privatleben zurückziehen und seine Erfüllung als glücklicher Familienvater finden wird. Er wird weiter für die Wahrheit kämpfen, mit der Hartnäckigkeit, mit der seine Frau Stella und alle seine Unterstützer für seine Freilassung gekämpft haben. Julian Assange wird das tun und somit eine umstrittene öffentliche Figur bleiben. Und das ist gut so.

(vza)