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Kommentar: Gehen Sie zu Fuß! Von Mobilität und besseren Städten.

Clemens Gleich

Wir lieben das Auto. Doch die Wahrheit ist: Damit es uns gut geht, sollten wir alle mehr zu Fuß gehen und unsere Städte dementsprechend gestalten.

Um meine selbstgewählte Position in unserer Gesellschaft als Fußgang-Lobbyist wurde es sehr schnell sehr still, denn ich musste über den Sommer sehr viel fahren, bevor sie wieder alles zusperren und ich als Freelancer dann wieder dumm dastehe als erste, einfachste Art, etwas zu sparen. Doch im September gönnte ich mir endlich die Watzmannüberschreitung, für die ich letztes Jahr zu spät dran war, weil ich auf andere Menschen gewartet hatte, was man in meinem Alter offen gesagt nicht mehr tun sollte. Es war herrlich. Ich wartete das Ende der bayrischen Ferien ab, ging unter der Woche, und wo sonst bis über 300 Menschen am Tag den Kalkstein abwetzen, trafen sich an diesem Tag weniger als ein Zehntel davon immer wieder in ihren unterschiedlichen Pausenkaskaden. Ich lief knapp 25 km: rauf auf den Berg, über den Berg, runter vom Berg, zurück zum Motorrad, mit dem ich angereist war.

Am nächsten Tag ging es mir sehr gut. Ich hatte alle möglichen Zipperlein erwartet (ich muss hier wiederum mein fortgeschrittenes Alter anführen). Doch der Körper meckerte über nichts, gönnte sich nur eine dem sehr frühen Aufstehen geschuldete erhöhte Schlafmenge von 12 Stunden. Mit bester Laune streunte ich mit der kleinen KTM 390 Adventure (Test) [1] durchs Berchtesgadener Land Richtung Heimat. Der Watzmann hatte mir gezeigt, wie gut Laufen tut und mich erinnert, wie sehr ich es wider besseres Wissen sträflich vernachlässige. Wieder zuhause begleite ich seitdem täglich meine Frau beim Rudelgassi über die Hügel unseres Tals.

Eigentlich wäre Laufen ein "no-brainer", wie der Amerikaner sagt. Der Stand der Wissenschaft: Laufen aktiviert das Gehirn und dessen Versorgung. Im Sitzen bist du nur halb so wach. Laufen sorgt für ein besseres Wohlbefinden. Spazierengehen gehört daher zu den einfachsten, wirksamsten und nebenwirkungsfreiesten Behandlungsmethoden bei Depressionspatienten. Laufen gehört zum Orientierungs- und Erinnerungssystem. Deshalb sortieren Meister des Memorierens ihre Daten in virtuellen Orten ("Gedächtnispaläste"). Wer viel läuft, wird sogar zu einer besseren Person und vice versa, wie Stephan et al 2018 in einer Studie über fünf Persönlichkeitsdimensionen feststellten. Dazu kommt, dass man draußen läuft, und das Draußen macht ebenfalls fröhlicher und gesünder. Sie finden den gesamten Forschungsstand über das Laufen in Shane O'Maras "In Praise of Walking" (deutsch und doppelt so teuer als "Das Glück des Gehens").

Fußwege sind meistens die schönsten Wege.

(Bild: Clemens Gleich)

Es gibt nichts Negatives über das Laufen zu sagen außer eines: Es kostet Zeit. Da wir glauben, wir hätten dafür keine Zeit, weil wir sie brauchen, um sie auf Facebook zu verpimmeln, liegt hierin schon der ganze Grund, aufs artgerechte Menschsein zu pfeifen und im Dunklen hocken zu bleiben, vor der Suchtmaschine asozialer Medien, was in allen Studien dazu belegt unglücklicher macht. Die Tragik des modernen Menschen konzentriert sich ins Absurde, wenn er nach einem Tag im Arbeits-Kabuff in einem geschlossenen Fahr-Kabuff in ein weiteres Kabuff fährt, in dem er dann auf einen Bildschirm starrend auf dem Laufband trabt.

Wenn wir also darüber nachdenken, wie wir unsere Mobilität verbessern könnten, müsste doch ein Gedanke ganz oben stehen: Wie können wir so mobil sein, dass es uns damit langfristig möglichst gut geht? Natürlich geht es dir kurzfristig besser, wenn du zu einem Ort – zack! – mit dem Auto fährst. Wie schnell das ging! Ich habe Dinge zu tun, zu denen ich reise. Aber langfristig macht dich das unglücklicher. Nein, wirklich. Das muss uns kaum verwundern, denn viele kurzfristige Glückspender sind ungesund: Crack rauchen macht kurzfristig extrem happy, langfristig aber nicht. Oder etwas weniger extrem: Nutella. Gib mir ein Glas Nutella und ich bin ein, zwei Stunden lang zufrieden wie Ruthes Eichhörnchen mit dem Löffel. Nach einer kurzen Zeit des Glücks folgt jedoch der Absturz, den es mit einem gesunden, gemischten Frühstück nicht gegeben hätte. Mobilität macht keine Ausnahme von dieser Regel. Wir wissen heute genug über artgerechtes Leben, dass wir eigentlich die Städte möglichst fußgerecht machen sollten.

In Stuttgart scheiterte ein Shared Space, das ist eine Straße, in der sich alle Arten von Mobilität dieselbe Oberfläche möglichst friedlich teilen sollen. In der Nachuntersuchung fiel auf, dass Fußgänger (und gemeinerweise vor allem Fußgänger mit Behinderungen) rücksichtslos behandelt wurden, von stärkeren Verkehrsteilnehmern, zu denen beim Fußgänger außer dem Auto auch das Fahrrad zählt. Ja, das hört der Fahrradfahrer ungern, aber Fahrradfahrer unterscheiden sich nicht grundsätzlich von Autofahrern. Es sind beides nur Menschen, die eben öfter einmal nicht bemerken, dass sie nach unten treten. Deshalb kamen in Stuttgart Experten zu einem logischen Schluss: Eine Fortbewegungsform muss regulativ bevorzugt werden. Es lag der Expertenrunde nahe, dass das die schwächste sein muss: der Fußgänger. Die Fahrradfahrerfraktion erlebt gerade starken Zulauf; Radfahrer sind kräftig in der Diskussion vertreten, sie brauchen meine Hilfe nicht. Ich widme mich dem menschlichen Fuß, damit er zwischen Auto und Fahrrad nicht unter die Räder komme.

Eine artgerechte Menschenstadt muss folglich so sortieren: Fußgänger first. Fahrrad und andere Kleinfahrzeuge second. Danach kommen Öffis, danach kommt das Auto. Wer draußen auf dem Land wohnt, muss diese Prioritäten wahrscheinlich umsortieren, denn das Auto wird (schon durch schiere Existenz) vor den Öffis kommen. Doch auch hier: Fußgang first. Ich habe es mir in der letzten Zeit wieder angewöhnt, mehr Stunden pro Woche zu Fuß unterwegs zu sein als mit Motorrad oder Auto. Mit eben dieser Vorgabe von Zeit statt Distanz ist das etwas, das in jeden Alltag passen sollte. Wenn Sie einen Hund haben und wenig laufen, dann halten Sie weder den Hund noch sich selbst artgerecht.

In der redaktionsinternen Diskussion fiel mir auf, dass "Fußgang first" bedrückend wirken kann. Jetzt soll ich auch noch laufen! Was kommt noch alles? Ich bin doch so schon am Ende. Diese Emotionslage ist sehr verständlich, denn es fühlt sich an, als solle einem noch mehr aufgebürdet werden und ein gut funktionierendes Werkzeug (das Auto) marginalisiert. Das ist jedoch nicht, was ich vorschlage. Das ist im Gegenteil eine Prä-Entzugserscheinung. Ja, ich will Ihnen ausreden, jeden Tag ein halbes Glas warmes Nutella zu löffeln. Nein, ich will nicht, dass Sie leiden. Ich will das Gegenteil. Doch etwas Liebgewonnenes anders machen ist zunächst immer beängstigend. Wir lehnen es immer zunächst ab – egal, wie gut es täte. Zum Glück liegt die Schwelle niedrig: Gehen Sie spazieren, denken Sie in Ruhe über das Laufen nach und wenn es Ihnen nach dem Spaziergang schlimmer geht als vorher, schreiben Sie mir und vielleicht auch Herrn O'Mara als Ansatzpunkt für vertiefende Forschungen.

Für den Städtebau heißt das etwas Städtebauern mittlerweile Bekanntes: Strukturen sollten möglichst lokal sein. Der kleine Laden um die Ecke. Die Stammkneipe. Dieser komische Buchladen, den man doch irgendwann betritt, nachdem man hunderte Male vorbei ging. Die Verarmung der Innenstädte wird gern darauf geschoben, dass nicht genug Auto gefahren werden kann. Doch mit Fußgängerzonen geht es dem lokalen Handel in allen dokumentierten Fällen besser als mit den paar Parkplätzen, die auf diesen Raum passen würden. Es entstehen dann zerklüftete, gewundene, kurz: menschliche Strukturen. Das Auto steht dann sicherer und sinnvoller in einer großen Parkanlage am Rand solcher Zonen, mit Parkleitsystemen, die den notorisch nutzlosen Parkplatzsuchverkehr vermindern.

Wir orientieren uns beim Fahrrad an den Niederländern, doch ihre Herangehensweise von "all ages, all abilities" gilt noch viel mehr fürs Laufen: Du brauchst keinen Parkraum. Du brauchst keine zusätzliche Hardware (Schuhe hat in Europa jeder). Als Zweibeiner verbrauchen wir sehr wenig Verkehrsraum, selbst in Bewegung. Und es ist die Verkehrsform, bei der die Ärmsten der Armen am wenigsten benachteiligt werden. Als Fußganglobbyist fordere ich kostenlose Stiefel für alle Mittellosen, damit sie an meinen ebenfalls geforderten neuen Fußgängerzonen benachteiligungsarm teilhaben können. Mein Budget wird im Vergleich zu allen anderen Verkehrskosten lächerlich gering sein.

Kostenlose Stiefel für alle Mittellosen! Das wird einen mikroskopischen Bruchteil der unsäglichen "Innovationsprämie" kosten.

(Bild: Clemens Gleich)

(cgl [2])


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