Kommentar: Klage gegen Internet Archive – (geistiges) Eigentum bekommt Recht

Uneigennützige Kulturgut-Retter versus gierige Musiklabels – diese moralische Gegenüberstellung ist leider verkehrt, findet unser Redakteur Tilman Wittenhorst.

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(Bild: Morrowind/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.

Freiwillige Helfer sammeln und digitalisieren alte Schallplattenaufnahmen und veröffentlichen sie bei der digitalen Non-Profit-Bibliothek Internet Archive. Die Macher des Projekts betonen dessen gemeinnützige Ziele: Historische Tonaufnahmen sind für Forschung und Bildung von großem Wert und sollen vor dem Vergessen bewahrt werden. Sie ernten dafür auch viel Zuspruch, schließlich sind das hehre Absichten – und welcher Konsument würde nicht gern kostenfrei in hunderttausenden Musikaufnahmen stöbern?

Die Macher liefern außerdem eine juristische Rechtfertigung ihres Tuns. Sie wollen also nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich auf der sicheren Seite sein. Schließlich sind die Künstler, deren Werke man bei dem Projekt hören kann, längst tot, und das Urheberrecht zieht für das freie Benutzen von geschütztem Material eine (mehr oder weniger exakte) Grenze, die die Leute vom Internet Archive als längst überschritten betrachten. Ihre Rechtfertigung klingt beinahe, als würden sie einen juristischen Streit um die Nutzung der Aufnahmen befürchten und vor den Augen der Öffentlichkeit auch gleich in ihrem Sinne entscheiden wollen.

Und zu dem Streit kommt es. Die "Musikindustrie" in Gestalt milliardenschwerer Firmen aus der Unterhaltungsbranche erhebt Klage und sieht die ganze Aktion in völlig anderem Licht – ethisch so ziemlich am anderen Ende der Skala, weswegen die Kläger starke Worte wählen: "Massendiebstahl", "eklatante Verletzung", die altruistischen Beweggründe in Wahrheit nur "ein Deckmantel zur Verschleierung des Diebstahls", als Opfer "einige der größten Künstler des 20. Jahrhunderts" und so fort. Die Firmen führen zudem an, dass digital aufbereitete Fassungen der reklamierten Aufnahmen bereits auf zahlreichen Streamingplattformen veröffentlicht seien, wo sie bestimmt nicht in Vergessenheit gerieten. Letzteres darf man den Firmen ruhig glauben, denn die verbuchen schließlich ihre Einnahmen daraus, weswegen sie den ganzen Aufwand überhaupt nur betreiben. Und ohne sie und ihre "Marktmacht" kommen nennenswerte Einkünfte für Künstler nicht zustande.

Die Reaktionen fallen ziemlich einseitig zuungunsten der "Musikindustrie" aus: Gierig sei sie, maß- und rücksichtslos, das Recht in ihrem Sinne überdehnend und so weiter. Diese Äußerungen dokumentieren einerseits die Ohnmacht der Betroffenen (Konsumenten sollen bezahlen, um in den Musikgenuss zu kommen, und Künstler werden bei Tantiemen möglichst kurzgehalten) – andererseits die Macht der schieren Geldmengen, die diese Firmen zum Zweck ihres Profits in Bewegung setzen. Gegen den hat grundsätzlich keiner etwas. Nur übermäßig soll er möglichst nicht ausfallen, wo auch immer die Schwelle dafür liegen mag.

Auch das Urheberrecht, das dem Streit zugrunde liegt und an dem die juristische Auflösung des Streits Maß nehmen wird, kommt bei den Kommentatoren schlecht weg: veraltet, starr, nicht im "digitalen Zeitalter" angekommen. Da stehen sich also zwei Seiten unversöhnlich gegenüber, pochen auf bestehendes Recht und wünschen vom Staat zugleich dessen Anpassung – alles im jeweils eigenen Sinn. Anstatt nun in den endlosen Streit um juristische Feinheiten einzusteigen (70 Jahre nach dem Tod? 90 Jahre bei Firmen? Oder besser pauschal bis 2067?), lohnt ein unverstellter Blick – mal ohne vorwegnehmende Parteinahme für die jeweils "Guten" in einer Auseinandersetzung – auf das Konstrukt des "geistigen Eigentums".

In allen als "Marktwirtschaft" bezeichneten Gesellschaften dient Arbeit dem Zweck, Produkte hervorzubringen, die als Privateigentum ihren Besitzern am Markt einen Erlös einzubringen haben. Das gilt allen Insassen dieser Gemeinwesen so sehr als Selbstverständlichkeit, dass sie es auch bei Produkten von Kopfarbeit normal finden. Doch das Privateigentum bringt bei geistigen Erzeugnissen einige Absurditäten mit sich. Erkenntnisse in einer Wissenschaft sowie Erzeugnisse aus Dichtung und Kunst sind ihrer Natur nach immer allgemein. Schon ihre Hervorbringung ist darauf berechnet, dass sie verbreitet und vom Rest der Menschheit aufgegriffen (und fortgeführt oder wenigstens genossen) werden.

Der Staat als Garantie- und Schutzmacht des Eigentums hat kein Problem damit und findet es auch absolut erforderlich, bei jedem Arbeitserzeugnis – ob materiell oder geistig – dessen Besitzer die exklusive Verfügungsmacht zu garantieren. Die benötigt der schließlich, um für sein Produkt von anderen Geld zu verlangen. Anderweitige Übergriffe werden dementsprechend geahndet. Im Urheberrecht verfügt der Staat die fortdauernde exklusive Nutzung von Kopfarbeit zum Zweck der Bereicherung, auch dann, wenn das Ergebnis längst allgemein verfügbar ist (was im "digitalen Zeitalter" über unbegrenzte Kopien einfacher als je zuvor machbar ist). Zugleich regelt er aber auch Fälle von Überlassung (Lizenzen) sowie Fristen (Tod des Urhebers). Das alles dient immer demselben Zweck: Ökonomisch produktiv soll das Eigentum werden, Erlös bringen, möglichst viel, also möglichst lange.

Die materiellen Arbeitsprodukte, obwohl genauso Eigentum, verschwinden nach Erwerb mit ihrer Benutzung (ihrem Konsum) und sind als solche unverdächtig. Aber beim geistigen Eigentum fällt manchen Menschen unangenehm auf, dass der Rechtstitel 'Privateigentum' den Ausschluss anderer bedeutet, was viel Kritik nach sich zieht. Dabei ist in beiden Fällen das Kernprinzip einer Wirtschaft am Werk, in der sich alles um Geld und seine Vermehrung dreht. Bevor man also die 'Macher' der Wirtschaft der Unmoral bezichtigt (ihre Größe ist gerade Ausweis dafür, dass sie erfolgreich hinbekommen haben, wonach alle streben), tut man gut daran, solche Kritik am ausschließenden Charakter des Eigentums überhaupt zu bekräftigen und aufs 'große Ganze' auszuweiten. Beim Eigentum lässt kein Staat ein Schlupfloch – als ob ein Hobbyprojekt mit ollen Schallplatten den Profit-Profis egal sein würde ...

(tiw)