Kommentar: Lockerungen für Geimpfte können gefährlich werden

Geimpfte werden vielerorts mit negativ Getesteten gleichgestellt. Das ist gut für die Wirtschaft und die Seele – aber auch ein riskantes Spiel mit den Mutanten.

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(Bild: Halfpoint/shutterstock.com)

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Das Robert Koch-Institut hat Stellung bezogen und schätzt „das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft sind, spätestens ab dem 15. Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis geringer ist als bei Vorliegen eines negativen Antigen-Schnelltests bei symptomlosen infizierten Personen.“ Das ist eine wissenschaftlich fundierte Aussage, sie ist durch Studien belegt, so wie man es vom RKI erwarten kann. Aber sie vergleicht zwei mit Unsicherheit behaftete Parameter: Erstens ist ein Schnelltest durchaus nicht sicher. Ein aktueller Übersichtsartikel im Journal „Cochrane Database of Systematic Reviews“ weist aus, dass durchschnittlich 72 Prozent der mit COVID-19 infizierten korrekt identifiziert wurden. Menschen ohne Symptome – die aber durchaus das Virus weitergeben – erkennen Schnelltests jedoch nur zu 58 Prozent.

Zweitens ist eine Impfung kein Schutzschild, das Viren an uns abprallen lässt. Eine Impfung ist ein Training für unser Immunsystem, damit es schnell auf den Erreger reagieren und ihn abwehren kann, bevor wir ernstlich krank werden. Die derzeit zugelassenen Impfstoffe senken – so das RKI – das Risiko einer SARS-CoV-2-Infektion nach der ersten Dosis um etwa 65 Prozent und nach der zweiten um bis zu etwa 90 Prozent, wie eine israelische Studie zeigt.

Allerdings betrachten beide Untersuchungen SARS-CoV-2, ohne auf die unterschiedlichen Mutationen einzugehen, die sich inzwischen um die Welt bewegen. Es gibt unterschiedliche Studien zur Wirksamkeit der verschiedenen Impfstoffe gegenüber den Mutationen – die dritte Welle, in der wir uns gerade bewegen – ist eine solche Mutanten-Welle und weltweit entstehen ständig neue Varianten, die mit zunehmender Freizügigkeit zügig reisen.

Ja, eine Studie belegt, dass der Biotech/Pfizer-Impfstoff auch gegen die derzeit bei uns grassierende britische Variante B.1.1.7 und die brasilianische Form P.1 schützt und auch die südafrikanische Mutation B.1.351 zwar abgeschwächt aber noch robust erfasst. Aber das ist einer von mehreren Impfstoffen und die Studie im New England Journal of Medicine wurde vom Hersteller finanziert. Der AstraZeneca-Impfstoff beispielsweise schützt vor dieser Variante nicht, wie eine weitere Studie im selben Journal zeigt. Insgesamt ist die Datenlage komplex, die Studien widersprechen sich teilweise, sind nur bedingt vergleichbar und derweil entwickeln sich weitere Mutationen in der Welt, wie etwa derzeit eine Doppelmutation in Indien. Die WHO zumindest zeigt sich besorgt.

Auch lohnt ein Blick auf die Einschätzung, dass ein Vakzin zwar schwächer wirkt, aber wirkt. Schwächer wirken bedeutet nichts weiter, als dass das Immunsystem selbst mehr tun muss, um das Virus abzuwehren – wie das regelmäßig bei nicht so ganz passenden Impfstoffen gegen die saisonale Grippe der Fall ist. Die Menschen durchlaufen eine schwächere Infektion mit dem Virus. Das ist aktiver Schutz vor schweren Verläufen, das hält Menschen von den Intensivstationen fern und mit kleinen Infekten setzen wir uns ständig auseinander. Halb so wild für die Infizierten. Es bedeutet aber auch, dass diese Geimpften aktiv an der Mutante erkrankt sind und sie aushusten, niesen und spucken. Weil sie geimpft sind – also vermeintlich nicht erkranken können – tun sie den Husten unter Umständen als einfache Erkältung ab.

Es ist also bei näherer Betrachtung zwar vollkommen korrekt, was das RKI äußert, es ist aber nur ein Teil der Geschichte und problematisch könnte werden, was mit diesem Teil nun gemacht wird: Die Stellungnahme verleitet verschiedene Bundesländer dazu, die Regeln für Geimpfte zu lockern. In Niedersachsen beispielsweise wurde zum 19. April die Corona-Verordnung des Landes (vorläufig bis zum 9. Mai) geändert. Wer einen Aufkleber über die zweite Corona-Impfung in seinem Impfausweis hat, der mindestens 15 Tage alt ist, muss sich nicht mehr testen lassen. Auch für Angestellte in Pflegeberufen diverser Art und Besucher sowie in Schulen gelten Erleichterungen.

Ein kleiner Einschub in der Verordnung zeigt, dass der Politik wohl schon irgendwie bewusst ist, dass es ein Spiel mit dem Feuer ist: Geimpfte Reisende aus Virusvarianten-Gebieten genießen keine Erleichterungen und müssen sich in Quarantäne begeben.

Ein Kommentar von Jo Schilling

Jo Schilling ist TR-Redakteurin. Sie hat nie ganz aufgehört, Naturwissenschaftlerin zu sein und ist überzeugt, dass komplizierte Zusammenhänge meist nur kompliziert sind, weil noch die richtigen Worte für sie fehlen.

Solche Erleichterungen sind angebracht, wenn ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist, denn dann verlieren auch die Mutationen ihren Schrecken. Eine Impfung mit einem nicht ganz passenden Impfstoff schützt – zwar vielleicht nicht vollständig, aber es geht letztlich doch darum, Leben zu retten und nicht vor leichten Infekten zu schützen. Und wenn die Mutationen sich weiterentwickeln, müssen wir uns vermutlich auf regelmäßige Impfungen mit angepassten Impfstoffen wie bei der Influenza einstellen.

Aber noch sind wir nicht so weit. Noch laufen zu wenige Menschen mit Klebchen im Impfpass herum. Sie sind darauf angewiesen, dass die Kombination aus Tests und Impfungen ihre Gesundheit – ihr Leben – schützt. Das für ein politisches Signal aufs Spiel zu setzen, könnte nach hinten losgehen. Vielleicht geht es aber auch gut – dann bleibt nur die ethische Betrachtung dieser Vorzugsbehandlung. Aber das ist eine ganz andere Debatte.

(jsc)