zurück zum Artikel

Kommentar: Stärkt endlich den ÖPNV

Martin Franz
S-Bahn Berlin

(Bild: Pierre Adenis / Deutsche Bahn AG)

Wer es mit der Verkehrswende ernst meint und weniger Autos in der Stadt haben will, muss den Nahverkehr ausbauen – mit allem, was dazugehört.

Das von einigen Menschen als erstrebenswerte Zukunft erachtete Bild, in dem wir uns in Großstädten nur noch zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Öffentlichen Personennahverkehr fortbewegen, bekommt immer dann Risse, wenn der Betrachter es mit der oftmals gar nicht so hübschen Realität abgleicht. So kann es fraglos sehr angenehm sein, sich per Pedes [1] oder Rad seine Wege zu suchen. Machen wir uns aber bitte nichts vor: Einmal abgesehen davon, dass dazu nicht jeder in der Lage ist, wird ein relevanter Teil spätestens unter widrigen Umgebungsvariablen ein Transportmittel wählen, dass ihm weniger abverlangt. Manch einer mag diese Suche nach dem Weg des geringsten Widerstandes ächten, letztlich siegt bei der Mehrheit aber die Bequemlichkeit.

Aktuell bedeutet das ziemlich oft: "Ich nehme das Auto." Falls es eines Beweises dieser These bedarf, möge sich der Zweifler die Verhältnisse im Berufsverkehr [2] ansehen. Angesichts einer fortschreitenden Wohnraumverdichtung auf der einen und immer längeren Pendelstrecken auf der anderen Seite erscheint die Dominanz des Pkws zwar auf den ersten Blick logisch, aber nicht nachhaltig. Wer im komplizierten Geflecht der Verkehrsströme in einer Großstadt das Auto weniger bedeutsam machen möchte – und dafür spricht einiges – muss den Nahverkehr stärken. Im Wesentlichen sind es fünf Kernpunkte, an denen diesbezüglich gearbeitet werden müsste: Zuverlässigkeit, reale Reisedauer, Preise und damit verbunden auch Preistransparenz, Komfort und Sicherheit. Naheliegenderweise wird nicht jeder jeden dieser Punkte gleich gewichten, zumal es in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte gab.

Der Witz mit den vier größten Feinden der Bahn hat die Bartlänge der Herrscher in Afghanistan und soll deshalb hier nicht erneut aufgerollt werden. Dabei könnten die Verkehrsbetriebe immer dann ganz unauffällig für sich werben, wenn die Straßenverhältnisse es nahelegen, das eigene Auto stehenzulassen. Doch leider schwächelt genau dann oft auch der ÖPNV. Züge, die keinen Frost vertragen, vereiste Weichen, Menschen, die Gleise für Spazierwege halten – die Liste ist lang und die Verkehrsbetriebe haben durchaus nicht an allem Schuld, was sich ihnen da in den Weg stellt.

Der Nahverkehr muss mit widrigen Bedingungen zurechtkommen. Nicht immer einfach, aber machbar, was nicht zuletzt große regionale Unterschiede in dieser Hinsicht zeigen.

(Bild: Uwe Miethe / Deutsche Bahn AG)

Doch als Kunde interessiert mich nur sekundär, was da gerade wieder einmal los ist. Ich muss zu meinem Ziel. Wenn der Geschäftsmann innerhalb von vier Wochen den dritten Termin verpasst, weil die Verkehrsbetriebe ihn nicht transportiert haben, sind die Hintergründe für ihn nachrangig.

Zu diesem Kapitel gehört natürlich auch die Pünktlichkeit. Grundsätzlich sind die Verkehrsbetriebe hier – wie auch die Bahn insgesamt – erheblich besser als ihr Ruf. Sie könnten es sich und ihren Kunden jedoch viel einfacher machen, wenn mit Verspätungen transparenter umgegangen würde. Ob man es dabei so weit treiben muss wie die Japaner, in deren Nahverkehr sich die Betreiber entschuldigen, wenn das Verkehrsmittel auch nur eine Minute Verspätung hat, glaube ich nicht. Doch mitunter wäre es geschickt, wenn die Verkehrsverbünde verraten würden, warum der Kunde wartet und eine Abschätzung liefern würde, wie lange. Das verkürzt die Wartezeit an sich nicht eine Minute. Doch diese Offenlegung würde hier und da dazu führen, dass die Kunden mehr Verständnis hätten – zumindest einige von ihnen.

Die Verkehrsbetriebe könnten es sich etwas leichter machen, wenn sie transparenter darlegen würden, wo es gerade hakt.

(Bild: Volker Emersleben / Deutsche Bahn AG)

Die Verbindung zwischen zwei Bahnhöfen gelingt schon heute meist sensationell rasant. Als ich mir vor ein paar Jahren ein Auto auf der anderen Seite einer Großstadt abholen durfte, kostete mich der Hinweg mit dem ÖPNV etwa 20 Minuten, der Rückweg im Pkw dagegen mehr als eine Stunde. Es liegt jedoch nahe, dass nicht alle Ziele rund um Bahnhöfe abgelegt sind. Meine Verhältnisse sind in dieser Hinsicht ausdrücklich nicht repräsentativ, allerdings auch nicht einzigartig: Die schnellste Verbindung ins Büro kostet mich ohne Auto rund etwas mehr als zwei Stunden – im günstigsten Fall und selbstverständlich auch nur dann, wenn alle Anschlüsse so funktionieren, wie im Fahrplan vorgesehen. Mit dem Auto sind es im Normalfall rund 45 Minuten.

S-Bahn in Köln

Das Tempo zwischen Bahnhöfen ist in der Stadt oftmals konkurrenzlos, die Reisedauer ist es meist nicht.

(Bild: Axel Hartmann / Deutsche Bahn AG)

Mittelfristig wird sich das Tempo ohne eine Netzverdichtung kaum steigern lassen. Dafür müssten zwei Dinge angegangen werden: Das Planungsrecht muss vereinfacht werden. Zudem braucht es Politiker, die sich bei unpopulären Entscheidungen nicht hinter Aktenbergen verstecken, sondern sich der, sicher oftmals unangenehmen, Diskussion vor Ort stellen. Denn viele finden eine Netzverdichtung des ÖPNV ganz großartig – bis die neue Bushaltestelle dann vor der eigenen Tür geplant wird.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Umfrage (Opinary GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Opinary GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung [3].

Doch ohne eine Baubeschleunigung schon in der Planungsphase wird es nicht gehen. Denn Großprojekte wie die zweite Stammstrecke in München oder der über Jahrzehnte geplante Ruhrschnellweg RRX müssen viel schneller umgesetzt werden als in der Vergangenheit. Es ist ein Unding, dass bis heute in Speckgürteln ganze Siedlungen in den Boden gerammt werden, ohne dass bei den Planungen im Vordergrund steht, wie Neuankömmlinge, die kein Auto haben, ihre Ziele erreichen.

Gute Arbeit sollte ordentlich bezahlt werden, und viele Mitarbeiter in den Verkehrsbetrieben leisten diese ohne Frage. Ich sehe das Experiment, den ÖPNV komplett aus Steuergeldern zu finanzieren, kritisch, weil ich die Bedenken teile, dass er so eine noch geringere Wertschätzung erfährt als aktuell ohnehin nur. Doch wenn ich für eine Fahrt von Grafing zum Münchener Hauptbahnhof, die günstigstenfalls 25 Minuten dauert, ab acht Euro aufwärts einplanen muss, fühle ich mich ein wenig untervorteilt.

Nachholbedarf gibt es auch bei der Preistransparenz. Wer als Besucher eine fremde Großstadt mithilfe der öffentlichen Verkehrsmittel erkunden will, hat sich vielfach etwas vorgenommen. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Diskussionen es zwischen Kontrolleuren und Ortsunkundigen gibt, die mit einem falschen Ticket erwischt werden. Die Chance dafür ist vielerorts viel zu groß, eine Entschlackung dringend geboten.

Neidvoll dürfte manch ein Fahrgast auf die Preise in Wien schauen. Dort kostet ein - selbstverständlich subventioniertes - Jahresticket 365 Euro. Ein solcher Preis lässt sich nur mit einem Steuerzuschuss umsetzen. Doch eine Verkehrswende ist nicht zum Nulltarif zu haben.

(Bild: Oliver Lang / Deutsche Bahn AG)

Alles schreit aktuell nach Digitalisierung. Ein Beispiel, wo es in der Umsetzung hakt, findet sich gewissermaßen direkt vor meiner Tür. Es ist nirgendwo ersichtlich, was die komplette Fahrt von Soyen in die Nähe meiner Arbeitsstelle in Haar kosten soll – nicht über die Webseite der Bahn, nicht über die der Münchener Verkehrsgesellschaft und auch nicht über die dort empfohlene App. Wissen Sie warum? Weil zwei Verkehrsverbünde seit vielen Jahren darüber diskutieren, wie man das gestalten könnte. Die Auflösung gibt es dann am Automaten, wenn er denn funktioniert – die Bahn hat schließlich mehr als die vier angedeuteten, natürlichen Feinde.

Ein jeder Gast zahlt für die Fahrt mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln, doch nicht jeder bekommt das Gleiche geboten. Zu Stoßzeiten sind die Züge und Busse mitunter gerammelt gefüllt, ein Sitzplatz für jeden nicht machbar. Nun mag es eine sehr isolierte Sicht der Dinge sein, weil ich einerseits in einem Alter bin, in dem ich nicht mehr gern stundenlang stehe, andererseits mir aber (noch) niemand seinen Sitzplatz anbieten wird. Doch die Verkehrsbetriebe könnten hier langfristig durchaus Entlastungen schaffen: Taktverdichtung und längere Nahverkehrszüge – den Betreibern fallen sicher noch mehr kluge Sachen ein, um komfortorientierte Menschen von einem Umstieg aus dem Auto zu überzeugen.

Es wäre in einem hohen Maße unfair, der Bahn und den Verkehrsbetrieben vorzuwerfen, sie würden nichts für die Sicherheit tun. Dennoch bleibt in dieser Hinsicht noch viel zu tun.

(Bild: Volker Emersleben / Deutsche Bahn AG)

Bahnhöfe und ihre direkte Umgebung haben oftmals einen mäßigen bis schlechten Ruf, was die Sicherheit vor Ort anbelangt. Bevor jemand dieses Argument vom Tisch fegt, sollte er sich gedanklich aus den Stoßzeiten des Berufsverkehrs herausbewegen. Wenn wir die viel zitierte Krankenschwester im Schichtdienst davon überzeugen wollen, morgens um 4 Uhr mit dem ÖPNV zur Arbeit zu pendeln, können wir die möglichen Bedenken hinsichtlich ihrer Unversehrtheit aber nicht einfach ausblenden. Manchmal reicht so ein Aspekt, um den Nahverkehr gedanklich zu verbannen – und wer würde es ihr verdenken?

Es mag in einer bestimmten politischen Denkrichtung populär sein, dem Auto einfach die innerstädtische Grundlage zu entziehen. Potenziell verantwortungsvoll kann das aber nur sein, wenn man sich auch um die Folgen einer solchen Politik kümmert. Wer meint, er könne aus dem komplexen Gebilde "Verkehr in Großstädten" den Baustein "Auto" einfach folgenlos rausschneiden, in der Hoffnung, aus allen Autofahrern werden dann Fußgänger oder Radfahrer, wird sich möglicherweise wundern, wie heftig der Protest auf seine Naivität werden wird.

Wer das Auto als Verkehrsträger in der Stadt weniger bedeutsam machen möchte, muss sich überlegen, wie dessen Transportleistung verteilt werden kann. Die Hauptlast dessen kommt auf den Öffentlichen Nahverkehr zu.

(Bild: Christian Bedeschinski / Deutsch Bahn AG)

Der Weg in autoärmere Großstädte führt meines Erachtens nur über einen attraktiveren Nahverkehr. Das freilich kostet Geld und unter Umständen auch Zeit und Engagement vor Ort. Dafür braucht es dann den Willen, sich nicht nur im Jubel einer lautstarken Minderheit von autohassenden Extremisten zu sonnen, sondern auch jene zu überzeugen, die mit den Folgen einer Verkehrswende tatsächlich jeden Tag leben müssen. Es mag nicht immer angenehm sein, sich solchen Debatten zu stellen. Ich glaube aber, es könnte sich langfristig lohnen.

(mfz [4])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6290510

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/meinung/Kommentar-Gehen-Sie-zu-Fuss-Von-Mobilitaet-und-bessern-Staedten-4991539.html
[2] https://www.heise.de/autos/artikel/Kommentar-Pendler-im-Stresstest-4438486.html
[3] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[4] mailto:mfz@heise.de