Kommentar: Wie LinkedIn das neue Facebook – und dann cool wurde​

Ein Pionier erlebt eine unerwartete Renaissance. LinkedIn ist enorm erfolgreich – und plötzlich sogar hip. Ein Kommentar von Nils Jacobsen über die Gründe.

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Die Illustration zeigt eine Frau, die ein Smartphone hält. Auf dem Smartphone ist die App LinkedIn geöffnet. Im Hintergrund ist ein aufgeklappter Laptop zu sehen, auf dem die Internetseite von LinkedIn geöffnet ist.

(Bild: PK Studio/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Ich habe vermeintlich die letzten Jahre unter einem Stein gelebt – und LinkedIn gemieden, wie eine Business-Messe in der echten Welt. LinkedIn, das war für mich eine unangenehme Melange aus beruflichen Erfolgsmeldungen (meist: verkündeten Jobwechseln) und irgendwann ziemlich selbstreferenziellen Coming-of-Age-Geschichten nach dem Motto: 'Früher war ich die graue Maus, aber jetzt komm’ ich ganz groß raus’. Geschichten von Sitzenbleibern in der Schule, von Lehrern und dem Leben verkannt, die aber plötzlich den großen Turnaround vollzogen und entweder zum Mega-Entrepreneur mit 100-Mann-Startup, Krypto-Millionär oder wenigstens Influencer avancierten. "Wenn ich es geschafft habe, dann Du auch!", lautete die irgendwie immer gleiche Botschaft.

Ein Kommentar von Nils Jacobsen

Nils Jacobsen ist freier Techreporter und Finanzjournalist in Hamburg. Der mehrfache Buchautor ("Das Apple-Imperium"/ "Das Apple-Imperium 2.0" ) berichtet seit 25 Jahren über die Entwicklung von Big Tech und der Aktienmärkte – aktuell als Autor für heise online, Zeit Online und Yahoo Finance sowie zuvor u.a. als Chefredakteur des Techportals CURVED. Der gebürtige Hanseat ist fasziniert von Aufstiegs- und Fall-Geschichten in der Digitalwirtschaft.

Also habe ich LinkedIn gefühlt über Jahre nicht geöffnet und damit offenkundig den Überraschungstrend in den sozialen Medien verpasst. Als ich an einem verregneten Sommertag an einem Artikel nicht weiterkam, Twitter prokrastinierend durchgespielt hatte und eher zufällig doch mal wieder auf LinkedIn klickte, traute ich meinen Augen nicht. Es gab 50 neue Kontaktanfragen und 100 Follower. Dazu sprangen mich im Feed Posts über die letzten Urlaube, über ausgefallene Abflüge und verschollenes Gepäck und – kein Witz – Porno-Konsum an ("Warum Pornos impotent machen").

Wie war eine solche Freakshow, die etwa der beliebte Mem-Account @BestofLinkedIn dokumentiert, möglich? Ich musste mich vergewissern: War dies hier – mit ähnlich blauem Logo – nicht Facebook, sondern tatsächlich das einst so verkniffene Business-Netzwerk, für das Microsoft 2016 seinerzeit mit 24 Milliarden Dollar überbezahlt hatte?

Sieben Jahre später sieht es wie eine der besten Akquisitionen in Microsofts fast fünfzigjähriger Firmengeschichte aus. Seinerzeit wies das 2002 in Mountain View gegründete US-Netzwerk 433 Millionen Nutzer und einen Jahresumsatz von 3,7 Milliarden Dollar aus. Heute bringt es die Microsoft-Tochter, die nach dem Börsendelisting keine gesonderten Quartalszahlen mehr herausgibt, auf mehr als 950 Millionen aktive Mitglieder und Erlöse von über 15 Milliarden Dollar im Jahr (Stand Ende Juli 2023). Es ist eine der gewaltigsten Wachstumsstorys im Silicon Valley, die in einem Atemzug mit anderen Erfolgsübernahmen wie YouTube, Instagram, WhatsApp genannt wird. Doch im Gegenzug zu den Google- und Meta-Töchtern ist LinkedIn ein echter Spätzünder.

Wie wurde die Microsoft-Tochter gegen Ende des Teenager-Alters doch noch "cool", wie selbst Bloomberg attestierte? Um das zu verstehen, wagte ich selbst das LinkedIn-Experiment. Nach Jahren der Absenz gab ich dem Netzwerk eine neue Chance und schärfte mein LinkedIn-Profil. Angetrieben vom Twitter-Niedergang und dem damit verbundenen Exodus von vielen geschätzten Followern startete ich vor zwei Monaten meine späte LinkedIn-Karriere mit diesem Post: "Wird LinkedIn ein Twitter-Ersatz? 🤷‍♂️ ", fragte ich – und sahnte zu meiner Überraschung 47 Likes und 37 Kommentare ab. So etwas war mir seit Jahren weder auf Facebook noch Twitter gelungen. Plötzlich erzielen meine LinkedIn-Posts mehr Engagement als Beiträge in jedem anderen Social Network.

Was einen erfolgreichen LinkedIn-Post ausmacht, lerne ich schnell: Persönliches garniert mit einem Foto skaliert weitaus besser als geteilte Artikel über den Niedergang von Paypal. Also das Bianchi-Gravelbike abfotografiert, ein paar Zeilen über das Glück, im Sattel zu sitzen und 27 Likes eingeheimst, während bei meinem geteilten heise-Artikel über den AI-Hype an der Börse zuvor gerade mal zwei Likes hängenblieben. Man kann es getrost die Facebook-Formel für die Business-Welt nennen.

Keine Frage: LinkedIn-Posts generieren immer mehr Aufmerksamkeit. Andere Nutzer scheinen das auch zu erkennen: Der "LinkedIn-Influencer" macht Karriere. Zwischen 2021 und heute stieg die Anzahl der Posts im LinkedIn-Feed um 43 Prozent. So schnell wächst aktuell kein anderes Social Network. Fast scheint es, als würde LinkedIn perfekt die Schwäche der anderen Netzwerke und damit die Gunst der Stunde nutzen: Facebook wirkt für viele Nutzer inzwischen so ausgelaugt wie ein altes Schuljahrbuch: Instagram scheint sich unterdessen einem gewissen Foto-Overkill zu nähern, TikTok bleibt das (fragwürdige) Privileg der Generation Z, zu dem Über-25-Jährige de facto keinen Zugang finden, während Elon Musk im vergangenen Jahr so ziemlich alles dafür getan hat, um Twitter irrelevant und für viele ungenießbar zu machen.

"Das berufliche Netzwerk (LinkedIn) profitiert von Umbrüchen an anderer Stelle in der Social-Media-Landschaft", resümiert Bloomberg-Techreporterin Sarah Frier. Das Wirtschaftsportal Business Insider sekundierte vorvergangene Woche: "Es wird zum einzigen Spiel in der Stadt."

LinkedIn ist inzwischen auch deshalb so viel mehr als ein förmliches Netzwerk für Geschäftskontakte, weil die anderen Social Networks über zwei Dekaden den Weg für persönlichere Posts bereitet haben. Der heute 40-jährige Senior Sales Executive war vor 17, 18 Jahren vermutlich an der Uni noch ein eifriger StudiVZ-Nutzer, dann glühender Facebooker und schließlich umtriebiger Instagrammer.

Zu posten und Dinge aus seinem Leben online zu teilen, erscheint in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Jobs und Privatleben immer mehr verwischen, fast selbstverständlich geworden zu sein. Es ist im Wortsinne sozial akzeptiert, sich in sozialen Netzwerken privat zu verbreiten. Millennials und Generation Xler scheinen nun offenkundig den größten gemeinsamen Nenner einer zivilisierten Diskussionsplattform gefunden zu haben: LinkedIn ist der Konsens des Mainstreams, die Große Koalition der Social Media-Plattformern.

(mki)