Gastkommentar zur Telematikinfrastruktur: "Das Maß ist voll"​

Vier Kardinalfehler bei der Umsetzung des deutschen Gesundheitsnetzes sieht Michael Evelt von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe.

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Lupe, unter der sich ein Warndreieck befindet.

(Bild: tingsriton chairat/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Michael Evelt
Inhaltsverzeichnis

19 Jahre nach der Grundsteinlegung für die Telematikinfrastruktur (TI) im Medizinwesen stellt sich die Frage, ob das mit viel Geld eingeführte Gesundheitsnetz den gewünschten Mehrwert gebracht hat. Die Stimmung bei den Anwendern, den Ärzten, ist im Keller. Zu Recht? Ja! Handelt es sich um kleine Fehler im System, die behoben werden können, oder um grundlegende Struktur- oder Systemfehler, die einen Reset (Neustart) erfordern? Vieles spricht für Letzteres. Aus meiner Sicht gibt es vier Kardinalfehler:

Ein Gastkommentar von Michael Evelt

(Bild: 

Markus Mielek

)

Michael Evelt ist seit 2017 stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe.

Jeder noch so kleine Fehler in der Telematikinfrastruktur führt derzeit dazu, dass medial, vorrangig in den sozialen Netzwerken, die gesamte Struktur der TI infrage gestellt wird. Hier entlädt sich der ganze TI-Frust, denn der Gesetzgeber hat sich seit Einführung der Telematikinfrastruktur darauf konzentriert, durch eine überzogene Fristen- und Sanktionspolitik die Nutzerzahlen und damit die beschleunigte Umsetzung der TI-Einführung zu erzwingen. Damit wurde bereits zu Beginn der Telematikinfrastruktur der erste Kardinalfehler begangen.

Ärztinnen und Ärzte haben den Arztberuf gewählt, um in freiberuflicher Tätigkeit Patienten zu heilen. Das bedeutet auch, dass sie in ihrer eigenen Praxis selbst und frei entscheiden wollen. Die Patientenversorgung steht im Mittelpunkt. Die eingesetzte Technik ist nur Mittel zum Zweck. Allerdings hat der Gesetzgeber die TI samt Komponenten mit Strafen in Form von Honorarabzügen erzwungen.

Es ist offensichtlich, dass die Politik beziehungsweise die Gematik es nicht geschafft haben, die Ärzteschaft von der Telematikinfrastruktur und der Nutzung der TI-Anwendungen zu überzeugen. Sie holt die Ärzteschaft nicht ab. Im Gegenteil: Die Gematik verliert die Ärzte zunehmend. Frustration und TI-Verdrossenheit sind das Ergebnis einer jahrelangen Fehleinschätzung der Situation.

Gleichzeitig wird die mangelnde Akzeptanz der TI von der Politik mit einer Blockadehaltung der Ärzteschaft begründet. In der Konsequenz wird den Ärzten unterstellt, dass eine Nutzung nur par ordre du mufti durch Sanktionierung und Vorgabe von Einführungsfristen möglich sei. Dem ist nicht so, denn die Ärzteschaft steht der Digitalisierung offen und positiv gegenüber. Allerdings darf die beschleunigte Einführung der Digitalisierung wie die Einführung der Telematikinfrastruktur nicht zum Selbstzweck der Politik werden.

Digitalisierung ist dann gut, wenn sie die Prozesse in der Arztpraxis unterstützt oder besser noch, wenn sie die Patientenversorgung verbessert. Hier liegt der zweite Fehler: Im Elfenbeinturm sitzend werden in immer kürzeren Zeitspannen neue Anwendungen mit sanktionsbewehrten Strafen durch gesetzliche Regelungen in die Versorgung gebracht. So wie jüngst angekündigt durch das Digitalgesetz, in dem zum 1. Januar 2024 das E-Rezept verpflichtend eingeführt wird. Bei Nichtnutzung werden zwei Sanktionen ausgesprochen: Honorarabzug von 1 Prozent und zusätzlich eine 50-prozentige Kürzung der TI-Pauschale.

Die einzige Anwendung, die seit Einführung der TI in der Versorgung gewinnbringend und nutzenstiftend eingesetzt werden kann, ist eine Anwendung der Zahnärzteschaft selbst. Dies ist die Einführung des elektronischen Antrags- und Genehmigungsverfahrens der Zahnärzte. Damit können zahnärztliche Leistungen elektronisch über die TI bei den gesetzlichen Krankenkassen beantragt werden. Durch die beschleunigte Genehmigung kann auch die Versorgung der Patienten zeitnah erfolgen. Die Akzeptanz dieser Anwendung ist enorm, da hier ein Nutzen in der Versorgung für den Arzt erkennbar ist.

Statt Geschwindigkeit bei der Einführung in den Vordergrund zu stellen, sollten Politik und Gematik endlich Usability in den Vordergrund stellen. Sanktionen und Fristen sind dann völlig überflüssig und waren noch nie ein geeignetes Mittel, um Nutzerakzeptanz zu erreichen. Im Gegenteil, sie führen zu wachsender Frustration. Kein Berufsstand will gegängelt werden.

Jüngstes Beispiel für den Frust der Ärzteschaft ist der Konnektorausfall eines namhaften Herstellers. Natürlich kann so etwas passieren. Jeder weiß, dass die Digitalisierung oder die Einführung neuer Produkte nicht störungsfrei verläuft, aber dieser Vorfall reiht sich in die Serie von Pleiten, Pech und Pannen ein. Das Maß ist voll. Die Ärzteschaft hat genug von Anwendungen, die keinen Mehrwert für die Versorgung bringen oder von Komponenten, die instabil laufen. Welcher Privathaushalt leistet sich eine Waschmaschine, die fünfmal neu gestartet werden muss, damit die Wäsche sauber wird. Das macht kein Verbraucher. Solche Geräte würden vom Markt verschwinden.

Technische Fehler, die die Abläufe in den Praxen stören oder zum Erliegen bringen, und der fehlende Mehrwert der Anwendungen sind bereits problematisch. Wenn dann noch Honorarabzug droht und Dienste der TI nur durch Zuzahlung der Ärzte verfügbar sind, ist es klar, dass niemand das System will.

Der Grundsatz der freien Marktwirtschaft wurde für die TI durchbrochen – mit fatalen Folgen. Hier liegt der dritte Kardinalfehler. Für die Preisbildung von Produkten sind in der Regel die Nachfrage und das Angebot verantwortlich. Der Staat hat aber durch den hoheitlichen Eingriff in den Markt das Nachfrageverhalten gesteuert. Ärzte haben keine Wahl, wenn sie Honorarabzug vermeiden wollen. Insofern ist die Nachfrage fixiert und muss sich nicht entwickeln. Dadurch entsteht ein unglaublicher Vorteil auf Anbieterseite. Denn sie brauchen nicht durch Variierung der Preisbildung das Nachfrageverhalten anzuregen. In der Folge können die Anbieter den Preis selbst bestimmen und orientieren sich dabei augenscheinlich an den Höchstsätzen der festgelegten Erstattungsbeträge aus der TI-Refinanzierung. Dadurch entstehen in der Folge Finanzierungslücken, die die Praxen zu tragen haben.

Der vierte Kardinalfehler wird deutlich am Tausch der Konnektoren. Warum müssen die Konnektoren ausgetauscht werden? Nach den Vorgaben des BSI können selbst die aktuellen RSA-Zertifikate noch bis zum 31. Dezember 2024 verwendet werden. Diese Zeit hätte ausgereicht, um alternative Lösungen zum Konnektortausch zu entwickeln. Zumindest mit dem Remote-Zertifikatsaustausch ist dies nun geschehen. Weitere Lösungen wie die TI-Gateway-Lösungen befinden sich im Zulassungsprozess.

Die bisher unbeantworteten Fragen sind: Warum konnte ein Anbieter die normativen Vorgaben der Gematik ohne Konsequenzen (Konventionalstrafen oder zulassungsbeschränkende Maßnahmen wie temporärer Zulassungsentzug) missachten? Warum ist es nicht gelungen, innerhalb von fünf Jahren die jetzt vorhandenen Lösungen zur Zertifikatserneuerung und TI-Gateway-Lösungen so zeitnah zu entwickeln, sodass ein Hardwareaustausch der Konnektoren überflüssig gewesen wäre? Stattdessen wurde der kostenintensive Hardwareaustausch angeordnet. Hier entsteht der Eindruck, dass die Industrie unter Missachtung der vorgegebenen Standards die Vorgaben macht. In anderen Lebensbereichen ist dies undenkbar und klar geregelt. Ein Auto wird vom TÜV für fahrtüchtig erklärt oder stillgelegt.

Im TI-System fehlen klare Regelungen der Zulassungsstelle Gematik oder sie werden nicht angewendet. Dies führt dazu, dass Anbieter im eigenen Interesse frei agieren können. Diese Entscheidung hat den Spitzenverband Bund der Krankenkassen und damit die Versicherten viel Geld gekostet, das an anderer Stelle in der Gesundheitsversorgung der Versicherten sinnvoller hätte eingesetzt werden können.

Das System TI kann so nicht funktionieren. Der Politik ist anzuraten, die Stimmungslage bei den Ärzten ernst zu nehmen und nicht immer als Stöhnen auf hohem Niveau abzutun. Denn letztlich sind es die Ärzte in Deutschland, die die gesundheitliche Versorgung der Menschen sicherstellen und nicht der Gesetzgeber in Berlin.

(mack)