Kommentar: Neue Weltformel? Das war wohl nichts.​

Die Physik hat zu viele Veröffentlichungen von geringer Qualität. Aber es gibt Hoffnung.​ Ein Kommentar von Sabine Hossenfelder.

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Das Paper liefert leider auch keine sinnvolle Weltformel

Das Paper aus "Astroparticle Physics" verspricht viel, liefert aber auch keine Weltformel.

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Sabine Hossenfelder

Wir suchen ja schon eine Weile nach der Weltformel, etwa 100 Jahre. Einstein hat es versucht, blieb aber erfolglos. Heisenberg machte einen Anlauf, fand die richtige Gleichung, aber ebenso nichts. Unter dem Sofa ist sie auch nicht, ich habe nachgeschaut. Aber letzte Woche erhielt ich mehrere Hinweise auf einen neuen Fachartikel, demzufolge hätte jetzt doch jemand eine Weltformel gefunden. Was ich denn davon halten würde?

Die Weltformel soll gleich zwei Probleme lösen. Das Erste ist, dass Physikern bereits in den 1930er-Jahren klar wurde, dass Einsteins Theorie der Gravitation – die Allgemeine Relativitätstheorie – nicht zusammenpasst mit der Quantenmechanik. Das liegt daran, dass die Relativitätstheorie kein Unschärfeprinzip hat und auch nichts weiß von Teilchen, die in zwei Orten gleichzeitig sein können. Es muss also eine neue Theorie her, die sogenannte Quantengravitation, die wir noch immer nicht haben.

Sabine Hossenfelder

Sabine Hossenfelder ist theoretische Physikerin und widmet sich in ihrer Arbeit vor allem der Quantengravitation und der Physik jenseits des Standardmodells. Gegenwärtig arbeitet sie beim Munich Center for Mathematical Philosophy (MCMP). Hossenfelder betreibt einen sehr erfolgreichen YouTube-Kanal. Im April 2024 wurde der Asteroid "Hossi" nach ihr benannt.

In den 1960er-Jahren kam dann noch ein weiteres Problem dazu, nämlich, dass die elementaren Teilchen, die Physiker gefunden haben – also die, die sich nach derzeitigem Wissen nicht weiter zerlegen lassen – keinen Sinn ergeben. Das sogenannte "Standardmodell der Teilchenphysik" ist eher ein Sammelkasten, in dem die ganzen Teilchen zusammengeworfen werden. Sie wollen sich aber nicht ordentlich arrangieren lassen.

Das Standardmodell hat zwar einige Regularitäten, aber nicht so viele, wie Physiker sich wünschen. Insbesondere können einen die Massen der bekannten Teilchen zur Verzweiflung treiben. Da lassen sich nämlich grob ein paar Muster erkennen. So kommen etwa die Teilchen in drei Gruppen, die "Generationen" genannt werden. Die Teilchen der zweiten Generation haben etwa 10-mal höhere Massen als die der ersten, und die der dritten Generation noch einmal 10-mal schwerere. Aber das ist nur so etwa richtig.

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Das Standardmodell sieht so aus, als ob es eine größere Theorie gibt, die dahintersteckt, von der alle Teilchen kommen. Diese größere Theorie ist die hypothetische "vereinheitlichte Theorie" oder "große Vereinheitlichung". Wenn man nun eine Vereinheitlichung hat und außerdem noch Quantengravitation, dann nennen wir das eine "Theorie von Allem". Nicht, weil man damit wirklich alles erklären könnte, sondern weil alles Grundlegende drin enthalten ist: alle Teilchen und bekannten Wechselwirkungen. In Deutsch redet man auch gerne von besagter Weltformel.

Die neue Theorie soll also jetzt neben der Quantengravitation auch noch die Massen der Teilchen im Standardmodell berechnen können. Zudem soll sie ein paar Probleme der Kosmologie lösen, und nebenbei den Gravitationswellenhintergrund erklären, der vielleicht gemessen wurde. Das klingt vielversprechend – vielleicht schon etwas zu vielversprechend. Den Fachartikel veröffentlichte gerade eine Gruppe thailändischer und chinesischer Physiker im Elsevier Journal "Astroparticle Physics".

Ich habe mir die revolutionäre neue Theorie also heruntergeladen. Zunächst sind mir sofort etliche Tippfehler in die Augen gefallen. Das ist grundsätzlich ein schlechtes Zeichen, weil es darauf hinweist, dass weder die Gutachter noch die Editoren oder Copy-Editoren den Artikel gelesen haben. Von den ersten Gleichungen an wurde mir klar, dass die einzig mögliche Lösung der Theorie sowohl Null für die Raumkrümmung als auch für die Energie haben muss. Das heißt, die Theorie beschreibt weder Gravitation noch Masse. Es kommen dann noch etliche weitere haarsträubende Fehler dazu. So wird zum Beispiel durch einen Vektor geteilt, und Differential-Operatoren werden mit Funktionen verwechselt.

Das waren jetzt viele komplizierte Worte. Die kurze Zusammenfassung ist: Die neue Weltformel ist mathematischer Unfug.

Da ich nun ohnehin schon Zeit damit verschwendet hatte, habe ich dann ein kurzes YouTube-Video gemacht, was die Probleme des Papers erläutert. Daraufhin wurde ich mehrfach darauf hingewiesen, dass einige der Autoren angedroht haben, Kritiker zu verklagen. Es ist wohl so, dass man in Thailand verklagt werden kann, wenn man falsche Information verbreitet. Die Autoren sind sich sicher, dass Ihre Gleichungen richtig sind. Jeder, der was anderes sagt, verbreitet also Falschinformation. Nun denn, ich erkläre auch gerne einem thailändischen Richter, warum der Ricci-Tensor symmetrisch ist.

Mit der Weltformel war es also wohl wieder nichts. Diese Geschichte illustriert aber ein größeres Problem, was die theoretische Physik schon seit meiner Studienzeit plagt: Es wird jede Menge Unfug veröffentlicht. Das liegt hauptsächlich daran, dass sowohl Gutachter als auch Editoren zu wenig Zeit (oder vielleicht auch einfach keine Lust) haben, viel nachzudenken. Es wird tatsächlich so viel Quatsch veröffentlicht, dass die meisten Physiker in den betroffenen Fachbereichen nicht mehr versuchen, schlechte Theorien zu korrigieren. Sie versuchen schlicht, sie zu ignorieren.

Daraus hat sich in den letzten 20 Jahren eine Ignoranz-Kultur ergeben, in der selbst wohlbekannte Forscher mit neuen Ideen ignoriert werden, einfach weil niemand die Zeit investieren will, sich damit auseinanderzusetzen und überhaupt zu erklären, was das Problem ist. Das betrifft in etwa den Nobelpreisträger Gerard ‘t Hooft, der neue Ideen zu schwarzen Löchern und der Quantenmechanik entwickelt hat, oder Eric Verlinde, der eine Alternative zur Dunklen Materie entwickelt hat, oder David Deutsch mit einem komplett neuen Ansatz zur Theorieentwicklung generell. Und dann sind da zehntausende von anderen Forschern, mit deren Ideen sich niemand auseinandersetzen will oder kann, weil die Zeit und der Wille fehlt, weil einfach zu viel veröffentlicht wird.

Das klingt jetzt sehr dystopisch, aber tatsächlich bin ich seit einigen Jahren wesentlich optimistischer, dass wir das Problem bald lösen werden. Das liegt daran, dass das Hauptproblem die Zeit ist, die es unseres kleines Menschenhirn kostet, Veröffentlichungen zu lesen. Das ist jedoch eine Aufgabe, die künstliche Intelligenz rasch erledigen kann, wenn sie erst einmal symbolische Mathematik versteht. Ich denke, das wird es Forschern bald sehr viel erleichtern, Ideen mit Potenzial zu identifizieren. Und wer weiß, vielleicht finden sie dabei auch die Weltformel.

(vza)