Ostsee-Pipeline Nord Stream: Krimi, Kampfbegriff, Kehrtwende?

Vor über zehn Jahren wurde die Pipeline Nord Stream 1 als Abkürzung für Gastransporte gebaut. Doch jetzt führt diese womöglich in eine ganz andere Richtung.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 691 Kommentare lesen
Bild vom Bau der Pipeline Nord Stream 1

Verlegung der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 1 in der Ostsee im Jahr 2010

(Bild: Nord Stream AG)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Die Frage, was mit den Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 passiert ist, wer für die schwere Sabotage Ende September am Meeresgrund verantwortlich zeichnet, gleicht einem Krimi. Jede Woche darf man aufs Neue gespannt sein, ob die Ermittler endlich mal Einblicke in ihre Erkenntnisse geben oder ob zumindest Betreiberfirma, Taucher oder Medien dem Puzzle ein weiteres Teil hinzufügen.

Eine Analyse von Malte Kirchner

Malte Kirchner ist seit 2022 Redakteur bei heise online. Neben der Technik selbst beschäftigt ihn die Frage, wie diese die Gesellschaft verändert. Sein besonderes Augenmerk gilt Neuigkeiten aus dem Hause Apple. Daneben befasst er sich mit Entwicklung und Podcasten.

Außer, dass drei von vier Röhren offenbar massiv beschädigt wurden, wissen wir selbst knapp zwei Monate nach dem Anschlag auf die Rohrverbindung nahe der dänischen Insel Bornholm nur sehr wenig. Und wenn die 1200 Kilometer langen Leitungen schon kein Gas mehr liefern, so doch zumindest viel Treibstoff für Mutmaßungen jeder Art. Nord Stream ist zum politischen Kampfbegriff geworden – zwischen West und Ost ohnehin, aber auch in nationalen Debatten darüber, wie mit Russland und in der Energiepolitik künftig vorgegangen werden soll.

Als vor zwölf Jahren in der Ostsee die 1200 Kilometer lange Gas-Pipeline Nord Stream 1 zwischen Russland und Deutschland erbaut wurde, fielen die Meinungen bereits unterschiedlich aus. Während die einen Kommentatoren darin im Gleichklang mit der damaligen Bundesregierung und dem vorherigen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) einen wichtigen Beitrag zur Energiesicherheit Europas sahen, hatten andere Zweifel. Zu den größten Kritikern zählten die Ostsee-Anrainerländer.

Zweifel, ob die höhere Abhängigkeit von Russland nicht ein geopolitisches Wagnis ist – eine Einschätzung, die sich mit dem heutigen Wissen mehr als bewahrheitet hat. Zweifel aber auch darüber, ob diese Pipeline, der mit Nord Stream 2 eine weitere, nie in Betrieb genommene, folgen sollte, überhaupt benötigt wird. Selbst wenn die russische Exportmenge von damals unter 150 Milliarden Kubikmetern um ein Drittel steigen sollte, bräuchte man keine neuen Exportrouten, zitierte die "Welt" einen Gasexperten. Schon die damaligen Transportkapazitäten nach Europa betrugen demnach 200 Milliarden Kubikmeter. Und daran hat sich wenig geändert: Im Jahr 2020 lieferte Russland nach Angaben des Bundesverbands Erdgas, Erdöl und Geoenergie 168 Milliarden Kubikmeter.

Schon damals spielten Streitigkeiten zwischen der Ukraine und Russland eine gewichtige Rolle in Europas Energieversorgung. Nord Stream war vor allem als Abkürzung gedacht. Die Ukraine als wichtigstes Transitland sollte russische Gaslieferungen nicht mehr ausbremsen können. Daran war auch westlichen Ländern gelegen, die stabile Gaspreise haben wollten. Die Pipeline, so urteilten damalige Kommentatoren, war ein politisches Bauwerk, kein technisch erforderliches.

Umso verwunderlicher, dass der Ausfall der bis zu 59 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr transportierenden Pipeline Nord Stream 1 nun von einigen gleichgesetzt wird mit dem Ausfall jeder Möglichkeit, dass Russland weiterhin Gas nach Europa liefern kann. Einige schreien, dass Europa die einzige, offenbar nicht beschädigte zweite Röhre von Nord Stream 2 in Gang setzen sollte, damit hierzulande die Gasversorgung stabil bleibt. Was dabei außer Acht gelassen wird: Die schon vor Nord Stream vorhandenen Transportstrecken gibt es weiterhin, wie die Bundesregierung erst jüngst bestätigte. Russland könnte also Gas liefern, wenn es wollte. In Wirklichkeit will es offenbar gar keines liefern. Egal, wie viele Rohre gen Westen führen.

Schon das Einstellen der Transporte im Sommer wurde hanebüchen begründet. Nach regulären Wartungsphasen wurden die Lieferungen willkürlich gedrosselt, später ganz eingestellt. Wer auch immer für die Zerstörung verantwortlich zeichnet, hat am Ende wohl nicht der Wiederaufnahme der Lieferungen, sondern nur einem weiteren Hin und Her einen Riegel vorgeschoben. Auch ist es ein komischer Zufall, dass ausgerechnet die für den Betrieb zugelassene erste Pipeline ganz sabotiert wurde, wohingegen die nie in Betrieb genommene zweite zur Hälfte verschont blieb.

Bei Nord Stream 1 ist es ungeachtet der technischen Machbarkeit fragwürdig, ob die am Betreiberkonsortium beteiligten europäischen Firmen sich die Finger mit einer Wiederinbetriebnahme schmutzig machen wollen. Eon hat die Pipeline per Wertkorrektur bereits buchstäblich abgeschrieben. Nicht nur der Gasstrom, auch das Vertrauen in die russische Seite ist wohl endgültig versiegt.

Wenn dieser ganzen Misere auch nur wenig Positives abzugewinnen ist, so bleibt ein Hoffnungsschimmer, dass Nord Stream vielleicht doch eine Abkürzung ist – nur in eine ganz andere Richtung, als ihre Bauherren das vor einem Jahrzehnt erdacht haben. Das Scheitern dieses Projekts könnte ein Impulsgeber sein – eine Kehrtwende geradezu –, Energieversorgung nachhaltig anders zu denken. Und damit ist nicht der kurzfristig nötige Schritt gemeint, LNG-Terminals zu bauen und das Methan einfach woanders zu kaufen.

Nord Stream war im Jahr seiner Entstehung zwar ein politisches Bauwerk. In die Zukunft gerichtet, im Lichte versiegender eigener europäischer Förderung wie in den Niederlanden, wäre dem russischen Gas aber doch mehr Bedeutung zugekommen. Genau darauf zielte Nord Stream 2 ab. Doch anstatt für weitere Jahrzehnte den Import fossilen Gases zu zementieren, könnte der Name Nord Stream auch in die Geschichte eingehen als der Moment, als Wasserstoff, erneuerbare Energien und all die Idee, die existieren, ein anderes Gewicht bekamen.

Könnte, wohlgemerkt. Ein Automatismus ist das nicht. Und Zweifel an der Realisierbarkeit, wie sie das Fraunhofer-Institut anmeldete, sind berechtigt. Alternativen existierten viel zu lange nur auf dem Papier – einen Kraftakt, wie das Verlegen einer 1200 Kilometer langen Pipeline durch die Ostsee wagte keiner. Mal schauen, was – wie jetzt bei Nord Stream – in zehn Jahren über die heutigen Einschätzungen gedacht wird.

(mki)