20 Jahre Wikipedia: Bollwerk gegen Fake News

Wikipedia ist eine der Erfolgsstories des Internets: kollaborativ, gemeinnützig, ein Bollwerk gegen Falschinformationen. Doch der Weg war nicht immer gradlinig.

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(Fast) das ganze Wissen der Welt in zwei Händen.

(Bild: Wikimedia Foundation (CC BY-SA 3.0))

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Torsten Kleinz
Inhaltsverzeichnis

Aus heutiger Sicht erscheint die Wikipedia immer schon zum Internet gehört zu haben. Gerade für Jüngere ist es selbstverständlich, sich alle möglichen Informationen über Goethe, Hypotenusen und das Grundgesetz für die Hausaufgaben dort zu holen. Und doch – Wikipedia ist eigentlich eine Spätentwicklung des ersten Dotcom-Booms.

Das Konzept des "Wikis" war bereits sechs Jahre alt, als Jimmy Wales und Larry Sanger am 15. Januar 2001 die Wikipedia in Gang setzten; mit allem, was notwendig war: ein Webserver, eine Datenbank und etwas PHP.

Niemand weiß ganz genau, welche Artikel die ersten in der neuen Enzyklopädie oder wer die ersten Autoren waren – nur vereinzelte Screenshots sind überliefert. Immerhin lässt sich in einer Nostalgie-Ausgabe durch die Inhalte der Wikipedia von 2001 blättern. In der Anfangszeit erhielt das Projekt noch relativ wenig öffentliche Aufmerksamkeit: Der erste Dotcom-Crash hatte die fieberhafte Neugier der ersten Online-Jahre geschwächt.

Erste Newsticker-Artikel folgten: über den 100000. Wikipedia-Artikel in der englischen Ausgabe, den 20000. Artikel in der deutschen Wikipedia, die erste Kooperation mit einem Suchmaschinen-Anbeiter und den ersten Spendenaufruf. Wikipedia hatte sich nicht nur als ernst zu nehmendes Projekt etabliert, sondern auch die ersten Weichenstellungen vorgenommen, die den späteren Aufstieg begründeten. Auf Telepolis erschien eine Artikelserie über den Tanz der Gehirne in der jungen Wiki-Szene aus der Feder von Erik Möller, der später zu einem der führenden Mitarbeiter der Wikimedia Foundation wurde. Konzepte wie der "Neutrale Benutzerstandpunkt" der Wikipedia-Artikel wurden einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Die Folgejahre waren von rapidem Wachstum und Ansehensgewinn geprägt. Auf den Hype folgten aber auch erste peinliche Momente, die das Grundprinzip infrage stellten. Der US-Journalist John Seigenthaler war etwa per Wikipedia beschuldigt worden, in die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy verstrickt zu sein. Ein misslungener Scherz mit Folgen. Die Wikipedia musste sich damit auseinandersetzen, dass sie – auch wenn die Leser immer wieder davor gewarnt wurden – tatsächlich das Vertrauen der Leser genoss. Als Konsequenz zog Wikipedia einige neue Grenzen ein: Das Neuanlegen von Artikeln wurde einige Zeit auf angemeldete Nutzer beschränkt, später wurde ein Sichter-Status eingeführt, der verhindern sollte, dass jeder gelangweilte Teenager mit Wikipedia-Edits Schlagzeilen machen konnte. Zur Ehrenrettung trug die Arbeit der freiwilligen Autoren ein, die unbeeindruckt weiter Artikel anlegten und den Wettbewerb mit Brockhaus & Co. mittlerweile als sportliche Herausforderung empfanden.

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Das Projekt strauchelte zwar immer, konnte sich aber immer wieder aufrappeln; das lag an dem großen Bedarf für eine frei verfügbare Enzyklopädie, die sich nicht nur auf verstaubtes Buchwissen beschränkte. Die damals noch junge Suchmaschine Google konnte nicht von Hobbyblogs oder Microsofts Prestige-Enzyklopädie Encarta gefüllt werden. Projekte wie die Filmdatenbank IMDB oder die vielen Frage-Antwort-Portale waren zwar geeignet, den schnellen Wissenshunger zu stillen, scheiterten aber daran, die vielen Millionen gesammelten Fakten zu verknüpfen und ihnen einen übergreifenden Sinn zu verleihen. Den klassischen kommerziellen Enzyklopädien und dem Digital-Herausforderer Encarta stellte die Wikipedia-Community eine DVD-Ausgabe entgegen, sogar Print-Ausgaben wurden gedruckt. Solche Projekte dienten als Sammlungspunkt, um die Wikipedia auf Qualität zu trimmen: Dass eine Wikipedia-Ausgabe wegen falscher Informationen eingestampft werden müsste, wollte kein Wikipedianer riskieren. Schleichend, aber endgültig zwang die Wikipedia den Markt für klassische Groß-Enzyklopädien mit Preisen in den Tausenden von Euro in die Knie.

Es gab genug Digital-Konkurrenten, die ebenfalls den Platz der Wikipedia einnehmen wollten. Aber der Zwang zur Monetarisierung machte Wissensportale wie Google Knol oder Mahalo allenfalls zum schwachen Abklatsch. Die Entscheidung, der Werbefinanzierung dauerhaft abzusagen, erwies sich als richtig. Auch der Wechsel von der veralteten und sperrigen GFDL-Lizenz zu Creative Commons sicherte eine Weiterentwicklung der Wikipedia und der Integration in ein mittlerweile fast durchweg kommerzielles World Wide Web. Wozu Wikipedia Konkurrenz machen, wenn sich Wikipedia-Inhalte problemlos nutzen lassen? Gerade Google macht davon bis heute ausgiebig Gebrauch.

Mit seiner Prominenz als zunehmende präferierte Wissenplattform der breiten Öffentlichkeit stand Wikipedia auch immer im Kreuzfeuer juristischer Auseinandersetzungen. Den Prozess um den Realnamen des Hackers Tron gewann Wikimedia klar – verlor aber einige Sympathien. In anderen Ländern kam es erst gar nicht zum Prozess. Bereits 2005 stufte die chinesische Führung die Wikipedia als so relevant und zensurresistent ein, dass sie die Online-Enzyklopädie erstmals sperrte.

In anderen Ländern zeigte sich die politische Klasse eher interessiert, das eigene Image per Wikipedia aufzumöbeln – und Gegner abzukanzeln. Ein kleines Tool, das die IP-Bereiche von unangemeldeten Wikipedia-Autoren Institutionen und Firmen zuordnete, sorgte für einen langen Strom echter und vermeintlicher Enthüllungen. Misstrauen wuchs heran: Ist eine Änderung aus dem Bundestagsnetz normaler Alltag oder schon eine versuchte Manipulation? Wikipedia war inzwischen so prominent, dass es auch auf Konfrontationen ankommen lassen konnte: Sogar eine zeitweilige Sperre in Großbritannien im Jahr 2008 blamierte die dortige Medienaufsicht und setzte einen Präzedenzfall gegen Netzsperren; auch in einem Urheberrechtsstreit mit der National Portrait Gallery in London gingen die Wikipedianer siegreich vom Platz. Allerdings: In den Folgejahren musste Wikipedia hier auch immer wieder Niederlagen einstecken.

Im Internet gibt es kein Abonnement auf Erfolg, das musste die Wikipedia-Bewegung um den 10. Geburtstag erfahren. Die großen Pläne, Wikis auf alle möglichen Bereiche des Internets auszudehnen, verflüchtigten sich recht schnell. Jimmy Wales versuchte Google mit einer Wiki-Suchmaschine den Rang abzulaufen -- und scheiterte. Auch die ambitionierten Wachstumspläne von Sue Gardner, Chefin der nun in San Francisco angesiedelten Wikimedia Foundation, lösten sich in Luft auf: Statt zu wachsen, schrumpfte die Gemeinde der kostenlos arbeitenden Wikipedia-Autoren rapide.

Die Wikipedia erschien angesichts neuer Zeitvertreibe im Internet wie Facebook oder Twitter plötzlich als unattraktiv und die Mitarbeit als undankbare Aufgabe. Aber wieder rappelte sich Wikipedia auf – auch gegen den Widerstand der Traditionalisten in der Community. So wurde der neue Visual Editor, der die Mitarbeit an der Wikipedia wesentlich vereinfachen sollte, im Streit von oben durchgedrückt. Schuld waren auch technische Altlasten: So war die bis dahin verwendete "Wiki-Syntax" immer wieder erweitert worden, dass der neue Editor nur mit großen Mühen programmiert werden konnte.

Seither gab es reichlich Zerwürfnisse und sogar regelrechte Dramen. Eine Konfliktlinie verläuft zwischen denen, die Wikipedia aufgebaut haben und jeder grundlegenden Veränderung skeptisch gegenüberstehen und denen, die die Wikimedia-Bewegung als Mittel sozialen Wandels sehen und teils für radikale Reformen plädieren. Klar scheint zu sein: die Wikipedia braucht dringend frisches Blut, um nicht an Relevanz zu verlieren und die Arbeit der Wissenspflege auf Dauer leisten zu können.

Unter der Ägide der derzeitigen Chefin der Wikimedia Foundation Katherine Maher ist die Stiftung und die Wikipedia-Community wieder in ruhigeres Fahrwasser gelangt. Die Wikipedia wächst wieder – wenn auch nicht mehr exponenziell. Konflikte gibt es immer noch mehr als genug – aber der Kontrast zwischen der Wissensmission der Wikipedia und den Informationen, die auf Plattformen wie Facebook, YouTube oder sogar reichweitenstarken Medien gestreut werden, verstärkt das Ansehen der Wissensplattform – von außen und von innen.

Wikipedia geht gestärkt in sein drittes Jahrzehnt, leider nicht als Repräsentant, sondern als krasse und deshalb unverzichtbare Ausnahmeerscheingung im Internet. Wo die Reise hingeht, ist offen. Die Wikimedia Foundation arbeitet an einer inklusiveren Version der Wissensplattform, darf dabei aber die politischen Reibungskräfte innerhalb der eigenen Community und die eigenen Ressourcen nicht überstrapazieren. Für die derzeitige Stabilität spricht, dass die Wikimedia Foundation sogar an der Möglichkeit automatisiert geschriebener Artikeln forscht, ohne dass es zu großen Zerwürfnissen kommt. Rapider Wandel ist allerdings nicht zu erwarten. Zeit für eine Bilanz der aktuellen Bemühungen ist es wohl erst wieder zum 25. Geburtstag.

(anw)