#20JahreHO

20 Jahre digitales Weltgeschehen: Ein paar Anmerkungen

Wenn Peter Glaser Mitte der Neunzigerjahre die Außentemperatur wissen wollte, ging er zum Fenster und schaute auf das Außenthermometer. Heute geht er dazu ins Netz und blickt für heise online zurück und nach vorn.

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Commodore C 64

(Bild: dpa, Karl Städele (Archivbild)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Peter Glaser
Inhaltsverzeichnis
#20JahreHO - Rückblicke und Ausblicke

heise online feiert Geburtstag und lässt kluge Köpfe in einer Artikelreihe nachdenken: Über das, was in 20 Jahren Technikentwicklung passiert ist - und über das, was in den nächsten Jahrzehnten kommen wird. Alle Artikel und Infos zu "20 Jahre heise online" versammelt die Themenseite zum Jubiläum:

Dass der Mensch, das werkzeugbenutzende Wesen, durch die Informationstechnik eine neue Kulturstufe erreicht hat, merkt man unter anderem daran, dass man mit einem Computer keine Bierflaschen mehr aufmachen kann. Das war zuvor noch mit jedem Werkzeug vom Faustkeil bis zur Maurerkelle möglich gewesen.

Tatsächlich gab es vor 20 Jahren eine interessante demokratische Phase. Alle wussten gleich wenig darüber, wohin die Reise mit der digitalen Technologie geht. Mit Telefonen konnte man nun nicht mehr nur telefonieren. Wer ein ISDN-Telefon in seiner ganzen Merkmalstiefe durchschaute, konnte damit bis zum Mond fliegen. Ein Bekannter erzählte mir, wie er Ärger mit seinem besten Freund bekommen hatte, weil sein Telefon seinen Freund ständig anrief. Ohne es zu merken, hatte er es so eingerichtet, dass es immer, wenn jemand eine Nachricht auf die Voice-Mailbox sprach, sofort danach die erste Nummer im Telefonverzeichnis – die seines besten Freunds – anrief und die neue Nachricht vorspielte.

Das erste Jahrzehnt der PC-Revolution ging zu Ende, indem die inselhaft auf und unter den Schreibtischen der Welt hockenden Rechner miteinander Verbindung aufzunehmen begannen. Gerade erst war das Internet im Licht der Öffentlichkeit erschienen. Im Dezember 1993 war in der New York Times erstmals ein Artikel über das World Wide Web und den Browser Mosaic erschienen – zwei Innovationen, die sich als zivilisatorischer Volltreffer erwiesen, der es fortan auch älteren Damen mit Hut möglich machte, in einer Viertelstunde zu lernen, wie man den Cyberspace durcheilt, ohne die Eingeborenensprache beherrschen zu müssen („Unix“).

Für mich als Deadline-gejagter Nachtmensch hatten sich Computer und Vernetzung seit jeher als segensreich erwiesen. Schon in meiner WG-Zeit konnte ich durch den Übergang von der ratternden Schreibmaschine auf die pfotenleise Tastatur eines Homecomputers meinen Mitbewohnern wieder zu Nachtruhe verhelfen. Fax war ein Geschenk des Himmels. Ich konnte ein fertiges Manuskript um vier Uhr früh abschicken, ohne mich noch bis Neun wachhalten und meinen Text am Telefon durchdiktieren zu müssen.

Ein Artikel von Peter Glaser

Bild: Karola Riegler

(Bild: Karola Riegler)

Peter Glaser begleitet seit 35 Jahren als Essayist und Autor die Entwicklung der digitalen Welt. Er ist Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs und Ingeborg-Bachmann-Preisträger, schreibt u.a. Kolumnen für Technology Review und Mac & i und betreibt für die Neue Zürcher Zeitung das Blog "Glaserei".

Nebenbei beruht der Siegeszug des Faxgeräts auf einem der ganz großen Erfolgsgeheimnisse des digitalen Zeitalters: eine einfache Oberfläche für komplexe, neuartige Möglichkeiten zu finden. Der „Fernkopierer“ war deshalb so beliebt, weil er erfolgreich zu verheimlichen wusste, dass er eigentlich ein Modem ist. Und längst ist es wieder soweit: Wer heute seinen Laptop aufklappt, ist im Netz. Sich dazu erst irgendwo eigens einwählen zu müssen, ist dem Gegenwartsuser fremd. Modernes Leben heißt Onlinesein.

Es gibt wenige Dinge, die fundamental neu sind, und das mit dem Bieröffner – ein Werkzeug in ein anderes transformieren zu können – sollte sich als das wirklich Neue am Computer erweisen. Diese Maschine ist nicht nur in der Lage, sich in jede andere Maschine zu verwandeln, sondern auch in Kulturgüter, Geldströme oder kühne Ideen, für die es zuvor gar kein Medium gegeben hatte, in dem sie hätten abgebildet werden können.

Wie in der Geschichte von König Midas, dem sich alles in Gold verwandelt, das er berührt, hat sich in den zurückliegenden 20 Jahren alles, das mit dem Begriff digital in Berührung kam, in eine neuartige Substanz verwandelt, die sich mit nie gekannter Leichtigkeit speichern, manipulieren, kopieren und um die Welt verschicken lässt. Die Musikindustrie bekam als erste zu spüren, was das im industriellen Ausmaß bedeutet. Die altgewohnte Darreichungsform des Musikalbums, auf dem man immer auch ungeliebte Stücke mitkaufen musste, zerfiel in digitale Atome. Im Netz kauft man einzelne Tracks, die einem gefallen (und vergibt damit aber auch die Chance, die verborgene Schönheit von Stücken zu entdecken, die sich einem erst nach dem zehnten Mal Hören offenbart).

In der digitalen Welt herrscht ein Zustand latenter Zerlegung. Althergebrachte Bündelungsformen werden aufgeknackt, wie Moleküle in einer Raffinerie. Zeitungen zerflattern zu singulären Artikeln, die in sozialen Netzen durchgereicht werden. Die Standardlänge von Filmen auf YouTube ist zwei Minuten. Aber diese digitalen Atome wollen sich unbedingt wieder zu neuen Molekülen verbinden. Am erfolgreichsten hat das bisher die Firma Google begriffen. Jede Trefferliste, mit der eine Suchanfrage beantwortet wird, ist ein Momentmolekül, eigens für mich zusammengefügt. Es geht um nichts Geringeres als eine Neuordnung der Welt.

Begonnen hatte es mit faszinierten Blicken in leuchtende Bildschirmfenster, durch die man wie in einen Schaukasten Einblick in eine neue, virtuelle Dimension nehmen konnte. Tatsächlich haben wir es längst nicht mehr nur mit einer Umwandlung der analogen Welt in eine digitale zu tun. Der Datenraum erweitert seinen Machtbereich zunehmend hinaus in die Menschenwelt. „Der Cyberspace hat sich umgestülpt“, sagt William Gibson. „Das Innere hat sich nach Außen gewendet. Es hat die physische Welt kolonialisiert.“

Wir lassen uns von Medien nicht mehr bloß beschallen, sondern wir leben inzwischen in ihnen, und sie verändern uns. Inbild ist der Mensch, der drin und draußen auf sein Smartphone schaut – ein Telefon, mit dem kaum noch telefoniert wird. Während das Web in den Neunzigerjahren noch einer langen, stummen Schaufensterreihe glich, begann es im neuen Jahrtausend sozial zu summen. Nun haben wir mit Facebook die erste planetare Wohngemeinschaft, einen Ort, an dem man Freunde hat, die man nicht kennt. Die hat man jetzt im Smartphone in der Jackentasche ständig mit dabei. Das Soziale Netz hält einen, auf angenehme Weise, siehe Faxgerät, in einer vereinfachten Version der Gegenwart gefangen.

Es hat genug Vorteile, um Abermillionen von Menschen darüber hinwegsehen zu lassen, dass sie sich eigentlich in der softwarebeaufsichtigten Version eines Erwachsenenkindergartens befinden. Die technische Vernetzung hat einen Grad erreicht, an dem man bereits über einen Endpunkt nachdenken kann, an dem die Jetzt-Sofort-Alles-Maschine ihre Arbeit aufgenommen haben wird. Das Netz wird sich dann in etwas verwandeln, das früher in Kinderbüchern Zauberei hieß. Man wünscht sich etwas, hebt die Hand oder die Stimme – und der Wunsch geht in Erfüllung. Vielleicht braucht man ihn dann auch nur noch zu denken.

Mein Wunsch an die Technik der Zukunft: Die Hardware soll verschwinden, nur noch die Funktionen bleiben. Die werden sich aus einer umfassenden technischen Infrastruktur speisen, die möglicherweise mit den Echtzeit-Steuersystemen für fahrerlose Autos gerade aufgebaut wird. Digitale Leichtigkeit – niemand muss mehr Geräte mit sich herumtragen. Aber spätestens seit Snowden ist die Zeit der Unschuld in der digitalen Welt vorbei. Das Netz, also wir, sind in ständiger Gefahr. Denn nichts als nur beziffert zu sein, und sei es in Form von Wahrscheinlichkeiten, nimmt dem Menschen jene wesentliche Art der Unbestimmtheit, die man Freiheit nennt. (axk)