3,8 Terabyte Wissenstropfen für den sozialen Wandel

Im Rahmen des Projekts dropping knowledge suchen 112 Experten am größten Runden Tisch mit Unterstützung der Technik und der Netzgemeinde nach den Antworten auf die wichtigsten Fragen der Menschheit.

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Seit neun Uhr morgens am heutigen Samstag herrscht am Bebelplatz in Berlin ein kolossales Sprachgewirr: Im Rahmen des Projekts dropping knowledge haben sich 112 Experten rund um den größten Runden Tisch der Welt mit 38 Meter Durchmesser in Position gebracht und suchen nun gemeinsam nach den Antworten auf die wichtigsten Fragen der Menschheit. Diese haben Internetsurfer gemeinsam mit den Veranstaltern der "Table of Free Voices" gestellt, ausgewählt und in acht Kategorien eingeordnet. Dabei geht es um die Neuerfindung der Wirtschaft und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit genauso wie die Entwicklung einer neuen Verantwortungsethik oder die Macht- und Kriegspolitik. Die Themen umfassen ferner die ökologische Entwicklung, die "nächste globale Grenze" rund um Kultur, Kommunikation und Vernetzung und mögliche Verfahren zur Beschleunigung der Innovation. Auch die persönlichen Ansichten der "Weisen" sollen gesondert erörtert werden.

Vor Ort verlesen die nigerianische Menschenrechtlerin Hafsat Abiola und der US-Schauspieler Willem Dafoe die 100 Fragen. Antworten geben bei dem Experiment in unterschiedlichsten Sprachen Dichter, Denker und Künstler wie Regisseur Wim Wenders, der Technologiekritiker und "Sun Microsystems"-Veteran Bill Joy, Unternehmensberater Roland Berger, das einstige Modell und jetzige Friedensaktivistin Bianca Jagger sowie Regisseur Terry Gilliam, der von Monty-Python bekannt ist.

Jeder am Tisch in Berlin spricht gleichzeitig seine Antwort für sich in eine gesonderte Video-Kamera und ein Mikrofon. Dafür hat er eine Minute Zeit. Mit dem Start der Aktion können alle Nutzer der Plattform aber auch ihr eigenes Wissen oder ihre Meinung einbringen, in einem Online-Forum diskutieren oder das Themenspektrum virtuell erweitern. Zudem wird das Happening live übers Internet gestreamt. Zum Einsatz kommt dabei zum einen ein Linux-Cluster im Backoffice, während die Teilnehmer unterm Runden Tisch einen Mac Mini CoreDuo 1,66 GHz stehen haben, der das Video- und das Tonsignal in einen QuickTime-Film im H.264-Codec wandelt und parallel auf Harddisk-Recorder aufzeichnet.

Insgesamt sollen an dem historischen Platz im Herzen Berlins, auf dem die Nazis einst Bücher verbrannten, genau 672 Stunden Film- und Tonmaterial oder 3,8 Terabyte an Daten zusammenkommen und vom morgigen Sonntag an für das eigentliche Herausfiltern des Wissens der Menschheit zur Verfügung stehen. Alle Materialien unterliegen einer Creative Common-Lizenz. Ziel der auch für Deutschland adaptierten Copyright-Variante ist es, einen großen weltweiten Pool an Medieninhalten zu schaffen, die komplett oder für nicht-kommerzielle Zwecke zum freien Download und zum Remixen gedacht sind.

Das Open-Source-Hintergrundsystem für die Plattform zur Auswertung der Antworten und zur Weiterführung des Dialogs hat das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) entwickelt. Es soll als Suchmaschine und Bibliothek zugleich fungieren. Benutzer können dabei entweder eine Volltext-Suche durchführen oder über eine optische Navigationshilfe einsteigen und recherchieren. Auch ausformulierte direkte Fragen sollen zu Ergebnissen führen.

Um den globalen Dialog in der notwendigen Breite und angestrebten Tiefe unterstützen zu können, habe man nicht auf bestehende Lösungen für virtuelle Diskussionsbretter und Suchmaschinen zurückgreifen können, erklärt Hans Uszkoreit, Leiter des Forschungsbereichs Sprachtechnologie am DFKI und Mitglied im Aufsichtsrat von dropping knowledge. Das Dialogforum sei mit einer Wissensbasis verbunden, "die Querverbindungen und Hintergrundwissen zu Tausenden von Themen kennt". Dabei soll die viel beschworene semantische Web-Technologie die Inhalte permanent neu organisiert. Gleichzeitig lerne das System durch die immer neuen Bewertungen und Aufrufe durch die Nutzer letztlich, die Relevanz der Inhalte einzuschätzen. Darüber hinaus sollen die Themenstränge mit Wikipedia und anderen Wissensressourcen verlinkt werden.

Die Organisatoren, der Berliner Werbefilmer Ralf Schmerberg sowie die US-Künstlerinnen Cindy Gantz und Jackie Wallace, wollen mit dem Experiment ein Labor für den sozialen Wandel begründen und diesen "sexy" machen. Lieber andere dazu inspirieren, drei neue Krankenhäuser in Entwicklungsländern zu bauen, als selbst eins zu errichten, lautet die Losung. Doch die Nutzer der Plattform könnten sich von dem Meer an Fragen und Antworten trotz moderner technischer Aufbereitung überfordert fühlen. "Wie viel heiße Luft und wie viel Substanz dabei rauskommt, kann ich jetzt auch nicht sagen", gab der gelernte Metzger Schmerberg in einem Pressegespräch zu, der für das Projekt bereits fünf Millionen Euro eingesammelt hat. Allein 2,7 Millionen davon stammen vom Hauptsponsor Allianz. Schmerbergs Vorbilder: "Albert Schweitzer, Gandhi, Mutter Teresa" – die Klassiker eben. (Stefan Krempl). (je)