Analyse zum AKW Saporischschja: Größtes Risiko besteht in der Stromversorgung

Damit es im AKW Saporischschja zu einer Katastrophe kommt, müssten nicht einmal die Reaktoren durch Beschuss beschädigt werden, analysiert ein Experte.

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Das Atomkraftwerk Saporischschja in einer Luftaufnahme.

(Bild: AP/dpa/pa, Archiv)

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Falls es auf dem Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja zu Kampfhandlungen kommt, könnte es zu einer Kernschmelze und daraus resultierenden Gefahren für die örtliche Bevölkerung, darüber hinaus für einen großen Teil Europas kommen. Dr. Nikolaus Müllner vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur Wien geht dabei in seiner nun vorgelegten Kurzanalyse nicht davon aus, dass einer oder mehr der dortigen sechs Reaktoren direkt beschossen und beschädigt würden. Vielmehr könnten andere Komponenten wie Stromleitungen beschädigt oder zerstört werden, die wichtig für die Sicherheit sind.

Falls es infolge einer Kernschmelze zur Freisetzung radioaktiven Materials käme, sei es wahrscheinlich, dass beispielsweise die Landwirtschaft in einem großen Teil Europas eingeschränkt wäre. Abgesehen davon, dass zunächst die Südostukraine und angrenzende Gebiete Russlands von einer Belastung etwa durch radioaktives Cäsium betroffen wären. Das ergäben Ausbreitungsberechnungen, heißt es in einer Mitteilung der Organisation Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), für die Müllner ein Szenario entwickelt hat.

Darin geht Müllner davon aus, dass es zu Kämpfen kommen kann, um das AKW Saporischschja unter Kontrolle zu bekommen oder um Soldaten zu bekämpfen, die dort stationiert sind. Dabei könnten Stromleitungen oder Gebäude zerstört werden, die im Gegensatz zu den Reaktoren nicht besonders gesichert sind. Auch wenn das AKW heruntergefahren ist, sei die Stromversorgung wichtig, um die dann immer noch anfallende Restwärme abzuführen. Wenn das nicht gewährleistet wäre, könne es zu einer Explosion kommen, die den Reaktorsicherheitsbehälter zerstört. Auch könnten die geschmolzenen Brennstäbe in das Fundament eindringen. Im Juli hatte Müllner bereits betont, dass nicht die Wasser-, sondern die Stromversorgung die mögliche Hauptbedrohung darstelle.

Dabei sei ein "adäquates Katastrophenmanagement während des Krieges nicht möglich", ergänzt Müllner. "Erinnern Sie sich daran, dass die russischen Besatzer schon 2022 Verwaltungsgebäude und den Haupttransformator des AKW Saporischschja in Brand setzten, aber der Feuerwehr den Zutritt zur Anlage verboten."

Der Atomreaktor von Tschernobyl in der Nordukraine habe 1986 elf Tage lang gebrannt, schreiben die IPPNW. Dabei entfielen 36 Prozent des gesamten radioaktiven Niederschlags auf Belarus, Russland und die Ukraine, etwa 53 Prozent auf das übrige Europa, 11 Prozent verteilten sich auf den Rest der Welt. Die belarussische Epidemiologin Lydia Zablotska berichtete 30 Jahre nach dem Super-GAU von Tschernobyl von einem erhöhten Langzeitrisiko für Leukämie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie Katarakte bei Aufräumarbeitern, und für Schilddrüsenkrebs und nicht-maligne Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Infolge der Kernschmelzen von Fukushima Daiichi im März 2011 sei es "reines Glück" gewesen, dass die daraufhin ausgestoßene radioaktive Wolke nicht über Tokio abregnete.

In Fukushima waren die Reaktoren nach einem verheerenden Erdbeben und einem Tsunami heruntergefahren worden. Da jedoch die Stromversorgung der beschädigten Blöcke nach mehr als 24 Stunden noch immer nicht wieder hergestellt war, konnte die Nachwärme der Brennelemente nicht mehr abgeführt werden. Stellenweise geriet die Umhüllung der Brennstäbe in Brand, sodass es zu einer Kernschmelze kam und zu Wasserstoff-Explosionen im Reaktorgebäude. Ein ähnliches Szenario wäre zumindest theoretisch auch in der Ukraine denkbar.

"Das eigentliche Problem ist nicht eine katastrophale Explosion wie in Tschernobyl, sondern die Beschädigung des Kühlsystems, das auch bei abgeschaltetem Reaktor erforderlich ist. Es waren diese Art von Schäden, die zum Unfall in Fukushima geführt haben", sagte David Fletcher von der Universität Sydney voriges Jahr kurz nach der Besatzung des AKW Saporischschja. Müllner will bis Mitte dieses Monats seine Analyse noch in ausführlicherer Form vorlegen.

Momentan befinden sich im AKW Saporischschja fünf Reaktoren in der Kaltabschaltung, Block 4 wurde jüngst in heiß unterkritischem Zustand überführt, Block 5 zur Wartung in den kalt unterkritischen. Die Internationale Atomenergieagentur IAEA fordert den russischen Betreiber auf, alle Möglichkeiten zu prüfen, um stattdessen den Dampf extern zu erzeugen, damit alle Blöcke in den Zustand der Kaltabschaltung versetzt werden können.

(anw)