APNIC-Chefwissenschaftler: IPv6-Einführung wohl obsolet
Geoff Huston stellt das Ziel infrage, IPv4 komplett durch IPv6 abzulösen. Durch CDNs und mobilen Traffic sei Adressknappheit kein wesentliches Problem mehr.
- Martin Gerhard Loschwitz
Spricht man mit Netzwerkern über IPv6, herrscht oft betretenes Schweigen: Der Nachfolger des IPv4-Adressstandards datiert zurück bis 1998 – und hat trotz aller Versuche der Netzgemeinde bis heute IPv4 nicht flächendeckend abgelöst. Während es im Netzwerkumfeld gemeinhin zum guten Ton gehört, sinnvolle Dual-Stack-Setups mit Unterstützung für IPv4 und IPv6 zu bauen, sehen viele Anbieter das Thema entspannt: Große Seiten wie GitHub unterstützen IPv6 bis heute nicht. Oft ist in diesem Kontext vom Henne-Ei-Problem die Rede, denn ISPs bieten IPv6 nicht an, weil seitens der Kundschaft vorgeblich die Nachfrage nicht ausreicht – schließlich seien viele Seiten im Netz per IPv6 nicht erreichbar. Seiten mit IPv4-Setup geben hingegen an, es sei sinnlos, IPv6 einzuführen, solange potenzielle Besucher mangels eigener IPv6-Konfiguration den Standard ohnehin nicht nutzen können. Vom erklärten Ziel, der absehbaren Knappheit von IPv4-Adressen durch die Vergrößerung des Adressraumes ein Ende zu setzen, ist IPv6 jedenfalls bis heute weit entfernt. Längst hat sich ein reger Handel mit IPv4-Adressen etabliert.
Für Aufsehen sorgt vor diesem Hintergrund ein Interview mit dem Chefwissenschaftler der APNIC, also der für den Asiatisch-Pazifischen Raum zuständigen Vergabestelle für IPs: Darin gab Geoff Huston zu Protokoll, das Ziel, IPv4 vollständig durch IPv6 zu ersetzen, sei in seinen Augen obsolet.
Namen statt Adressen
Die Gründe dafür sind laut Huston vielfältig. Zunächst sei ein großes Problem gewesen, dass der Bedarf für IPv6 vielen Internetnutzern nicht sinnvoll zu vermitteln sei, weil es außer dem größeren Adressraum unmittelbar keine zusätzlichen Funktionen böte. Es fehle gewissermaßen das Incentive, auf IPv6 umzustellen. Gleichzeitig habe ungünstigerweise mit der geplanten Einführung von IPv6 auch die Nutzung mobiler Endgeräte wie des iPhones eingesetzt, die Provider in Sachen Traffic vor völlig neue Herausforderungen gestellt hätten. Firmen, so die Theorie, die sich ansonsten womöglich mit der IPv6-Einführung beschäftigt hätten, waren damit beschäftigt, ihre Umgebungen an die wachsende Nachfrage durch mobile Endgeräte anzupassen. Dabei setzte man etwa auf verschiedene Arten von NAT, was bis heute für die meisten Anwender in hinreichender Qualität funktioniere.
Zwar habe IPv6 mittlerweile immerhin eine Verbreitung von über 40 Prozent der Internet-Nutzer erreicht, was Huston vor allem darauf zurückführt, dass für den APAC-Raum insgesamt nur relativ kleine IPv4-Adressblöcke reserviert seien. Insbesondere dort sei IPv6 wichtig. Darauf, dass der Zug für IPv6 mittlerweile abgefahren sein könnte, deutet für Huston trotzdem ein weiterer anderer Umstand hin: Um die immer größer werdenden Inhalte an Nutzer auszuliefern, habe die Industrie das Prinzip der Content Delivery Networks (CDNs) etabliert. Für diese jedoch seien primär Namen wichtig und weniger die genutzten IP-Adressen. Bereits heute geschehe ein großer Teil der Zugriffssteuerung im Netz hauptsächlich über DNS und Loadbalancer. Die Bedeutung von IPs trete dadurch in den Hintergrund, die zentrale Magie müsse stattdessen in den jeweiligen Anwendungen geschehen.
Entsprechend plädiert Huston für einen pragmatischeren Umgang mit der Migration hin zu IPv6: Das Ziel müsse nicht mehr zwangsläufig sein, IPv4 vollständig durch IPv6 abzulösen. Stattdessen könnte man etwa vorgeben, dass die IPv6-Transition erfolgreich abgeschlossen sei, wenn es für ISPs möglich wäre, ohne IPv4 die eigenen Kunden sinnvoll zu bedienen. Es kommt hier auf die Details an: Auch für das von Huston ausgegebene Ziel wäre es schließlich notwendig, dass sowohl sämtliche ISPs als auch sämtliche Dienstanbieter IPv6 unterstützen. Ob im Hintergrund von Anwendungen dann aber IPv4, IPv6 oder gar völlig andere Techniken zum Einsatz kommen, wäre dieser Logik folgend letztlich egal.
In seinem Fazit geht Huston sogar noch einen Schritt weiter: Er stellt die Definition des Internets als "Verbund von Netzwerken" mit gemeinsamem Adressraum infrage und geht davon aus, dass man das Internet künftig eher als einen Verbund von Diensten betrachten werde, die ähnliche Zugriffsmethoden nutzen. Generell werde die Relevanz des Netzwerks wie bisher auch weiter abnehmen und die Bedeutung der Dienste im Gegenzug wachsen. Den vollständigen Artikel finden interessierte Leser im Blog der APNIC.
Finger in die Wunde
Ob Hustons Prognosen sich bewahrheiten werden, steht freilich in den Sternen. Jedenfalls legt er mit seinem Interview den Finger in die eingangs beschriebene IPv6-Wunde. Vor dem Hintergrund der sehr schleppenden IPv6-Adaption in der gesamten Netzgemeinde ist es zumindest nachvollziehbar, dass man mancherorts an die endgültige und vollständige Ablösung von IPv4 durch IPv6 nicht mehr glaubt. Überbewerten sollte man Hustons Äußerungen aber auch nicht – wer das Interview als Vorwand nehmen will, das eigene Projekt zur Einführung von IPv6 auf Eis zu legen, läge jedenfalls daneben: Die grundsätzliche Notwendigkeit, IPv6 im gesamten Netz funktionierend einzuführen, stellt auch Huston schließlich nicht infrage. Und vom Ziel, konkurrenzfähige ISPs ohne IPv4 zu haben, ist das Internet gegenwärtig noch weit enfernt.
(fo)