Absturz von Lion Air 610: Diese Maschine war “nicht flugtauglich”

Bei dem Absturz einer neuen Boeing 737 in Indonesien spielte neben Fehlern der Airline offenbar auch ein neues Sicherheitssystem des Herstellers eine Rolle.

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Absturz von Lion Air 610: Diese Maschine war “nicht flugtauglich”

Eine Boeing 737 Max der Lion Air.

(Bild: Boeing)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Bei der Untersuchung des Absturzes einer indonesischen Passagiermaschine verdichten sich die Hinweise, dass ein neues Fluglagekontrollsystem der Boeing 737 Max eine Rolle gespielt hat. Bei der Präsentation eines vorläufigen Untersuchungsberichts kommt die indonesische Flugaufsichtsbehörde KNKT allerdings zu dem Schluss, dass das Flugzeug wegen bekannter Probleme mit fehlerhaften Sensordaten “nicht flugtauglich” gewesen sei – und damit gerät auch die Fluggesellschaft Lion Air ins Visier.

Die Maschine der indonesischen Billigfluglinie war am 29. Oktober nur elf Minuten nach dem Start in Jakarta ins Meer gestürzt. Von den 189 Insassen auf Flug 610 überlebte niemand. Inzwischen wurde der Flugdatenschreiber geborgen und mit der Auswertung der Daten begonnen. Nach dem Cockpit Voice Recorder (CVR), der die Töne im Cockpit und die Stimmen der Piloten aufzeichnet, wird weiterhin gesucht.

Eine erste Auswertung der Daten deutet laut KNKT darauf hin, dass die Computersysteme der Boeing schon auf vorherigen Flügen mit unzuverlässigen Sensordaten versorgt wurden. Die zur Geschwindigkeitsmessung genutzten Anstellwinkelsensoren, die für jede Cockpitseite unabhängig den Winkel zwischen Tragfläche und Luftstrom ermitteln, lieferten unterschiedliche Werte. Die Sensoren wurden vor dem vorletzten Flug der Unglücksmaschine ausgetauscht, die Probleme blieben aber offenbar bestehen.

Aufgrund der falschen Sensordaten griff ein bei der Boeing 737 Max neu eingeführtes Kontrollsystem ein, das die Maschine vor extremen Fluglagen bewahren soll. Das Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) soll bei bestimmten Fluglagen mit Korrekturen des Einstellwinkels des Höhenleitwerks die Maschine vor einem drohenden Strömungsabriss schützen.

Dem Zwischenbericht zufolge haben die Piloten von Lion Air 610 schon kurz nach dem Start gegen die automatischen Korrekturen des MCAS angekämpft. Der Flugcomputer nahm aufgrund fehlerhafter Sensordaten eine zu geringe Geschwindigkeit sowie einen drohenden Strömungsabriss an. Das System funktionierte wie vorgesehen und versuchte, mit Korrekturen des Höhenleitwerks die Nase der Maschine nach unten zu drücken, um Geschwindigkeit aufzunehmen. Die Piloten arbeiteten mit dem Steuerknüppel dagegen.

Hier geraten das MCAS und die Informationspolitik des Herstellers in den Blick. Dass Flugcomputer zur Stabilisierung der Fluglage die Einstellwinkel des Höhenleitwerks automatisch nachtrimmen, ist bei allen modernen Verkehrsflugzeugen Standard. Bei Fehlfunktionen gibt es vorgeschriebene Prozeduren, wie die automatische Trimmung abzuschalten ist. Das MCAS verhält sich hier aber ein wenig anders als die Automatik der älteren 737-Modelle – was viele Piloten offenbar nicht wussten.

Erst kurz nach dem Unfall von Flug 610 gab Hersteller Boeing einen Sicherheitshinweis für die 737 Max heraus, in dem er über das MCAS informierte. Das System greift bei einem zu hohen Anstellwinkel ein und trimmt gegen. Boeing argumentiert, dass bei einem Fehlverhalten die gleichen Prozeduren greifen wie bei dem alten System: Die Piloten korrigieren die Trimmung mittels Schaltern an der Steuerkonsole oder manuell mit den Trimmrädern im Cockpit, die das Leitwerk mit Seilzügen bewegen.

Bei wiederholten Fehlern lässt sich die elektrische Trimmung auch ganz abschalten, das Flugzeug muss dann manuell getrimmt werden. Das haben offenbar die Piloten des vorletzten Flugs der Maschine gemacht, als der Computer fehlerhafte Daten meldete und das MCAS eingriff. Warum die Crew von Flug 610 trotz zahlreicher Warnhinweise des Flugcomputers nicht auch so reagiert hat, ist noch nicht geklärt. Die Ermittler erhoffen sich auch Erkenntnisse durch die Auswertung des Stimmenrekorders – sollte der noch gefunden werden.

Boeing 737: Gut zu sehen die vergrößerten Triebwerksgehäuse der Max.

(Bild: Boeing)

Boeing hat MCAS bei der 737 Max eingeführt, um die Flugeigenschaften der Maschine mit neuen Triebwerken zu stabilisieren. Die 737 Max ist eine Weiterentwicklung des seit 1968 fliegenden Arbeitspferds von Boeing und seit Sommer 2017 bei verschiedenen Fluggesellschaften im Einsatz. Sie ist mit modernen Mantelstrom-Triebwerken mit besonders hohem Nebenstromverhältnis ausgerüstet: Um die eigentliche Turbine wird ein verdichteter Luftstrom nach hinten geleitet. Das sorgt für zusätzlichen Schub, mehr Effizienz und weniger Lärm. Die gleichen Triebwerke von Hersteller CFM kommen auch in neuen Airbussen zum Einsatz.

Damit diese deutlich größeren Triebwerke an die relativ kurzbeinige 737 passen, hat Boeing die Gondeln für die Turbinen nach vorne und oben versetzt. Damit verschiebt sich auch der Schwerpunkt der Maschine und die Flugeigenschaften ändern sich. In bestimmten Fluglagen erhöht sich zudem der Auftrieb durch die abgeflachte Unterseite der modernen Triebwerke. MCAS wurde eingeführt, um unerwünschte Nebeneffekte des neuen Designs auszugleichen.

Boeing rechtfertigt seine Informationspolitik damit, dass die Maßnahmen bei einem möglichen Fehlverhalten des neuen Systems von den bestehenden Checklisten für Trimmungsfehler abgedeckt werden. In einer Stellungnahme vom Dienstag weist der Hersteller darauf hin, dass die Piloten des vorletzten Flugs der Unglücksmaschine das fehlgeleitete MCAS so auch erfolgreich deaktivieren und die Kontrolle über das Flugzeug behalten konnten.

Piloten monieren jedoch, dass ihnen damit elementare Informationen vorenthalten wurden. "Bei dem Vorgängermodell der 737 hatte Boeing erklärt, dass sich eine unkontrollierte Trimmung des Leitwerks mit einem Ziehen am Steuerknüppel stoppen lässt”, sagte ein Sprecher der Pilotengewerkschaft von American Airlines gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Bei einem aktivierten MCAS sei das nicht der Fall. “Dieser Unterschied ist wichtig zu wissen.”

Experten mutmaßen daher auch, den Piloten des Unglücksflugs sei nicht klar gewesen, dass sie es mit MCAS zu tun hatten und nicht mit einer Fehlfunktion der bisherigen automatischen Trimmung, die sich auch mit Steuerimpulsen einfangen ließ. Der Zwischenbericht der indonesischen Flugaufsichtsbehörde stützt diese Theorie. Die Crew versuchte die wiederholte Trimmung nach unten immer wieder zu kontern, bis das Flugzeug in einen steilen Sinkflug überging und nicht mehr abzufangen war.

Während Boeing wegen seiner Informationspolitik am Pranger steht, muss sich Lion Air fragen lassen, warum die Maschine trotz der bekannten Probleme mit den Sensoren eingesetzt wurde. Dem Bericht der Flugaufsichtsbehörde zufolge gab es auf mehreren vorherigen Flügen Probleme mit den Sensoren und der gemessenen Geschwindigkeit. Vor dem vorletzten Flug des Flugzeugs seien die Anstellwinkel-Sensoren ausgetauscht worden, die Probleme blieben aber bestehen. Auf dem Unglücksflug war zudem offenbar ein Wartungsingenieur zur weiteren Diagnose mit an Bord.

Den indonesischen Behörden zufolge gehörte die Maschine nicht in die Luft. “Das Flugzeug war nicht mehr flugtauglich und hätte nicht weiter fliegen dürfen”, sagte der Chef der Luftfahrtsicherheitsbehörde, Nurcahyo Utomo, am Mittwoch bei der Präsentation des Zwischenberichts. Damit gerät auch die Sicherheitskultur des indonesischen Billigfliegers ins Visier der Ermittler. Mit einem Abschluss der Untersuchungen wird erst im kommenden Jahr gerechnet. (vbr)