Active Assisted Living als Chance für ein würdevolles Altern

Die alternde Gesellschaft stellt Pflegeeinrichtungen, Familien und besonders Pflegebedürftige vor Herausforderungen. Technische Hilfsmittel könnten helfen.

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Auch Harold möchte in Würde altern.

(Bild: StockLite/Shutterstock.com)

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Viele Menschen möchten ihren Lebensabend in den eigenen vier Wänden verbringen. Technische Hilfsmittel und soziale Netzwerke könnten dabei helfen, sagt Digital-Health-Expertin Florina Speth. Gemeinsam mit dem Smart-Living-Unternehmen HUM Systems hat Speth ein Whitepaper mit Lösungsvorschlägen erarbeitet.

Demnach etablieren sich für ältere Menschen Plattformen, "die sich auf die soziale Vernetzung in der Nachbarschaft konzentrieren". Dabei müssen die Helfenden keine ausgebildeten Pflegefachkräfte sein. Der Bäcker um die Ecke wird beispielsweise bei einem Sturz einer älteren Person informiert und erhält eine Benachrichtigung auf ein angebundenes System. Die gestürzte Person oder ihr System aktiviert dann die Notfallbenachrichtigung. Bei Bedarf informiert der (möglicherweise bezahlte) Helfer dann eine Pflegefachkraft. Ebenfalls denkbar für die Zukunft seien sich beim Sturz entfaltende Airbags.

Eine weitere Chance für die Zukunft sieht Speth in der Entwicklung von Ambient Assisted Living (AAL) – Systeme, die das Leben älterer oder behinderter Menschen situationsabhängig unterstützen – hin zu Active Assisted Living. Mithilfe von im zu Hause eingebauter Sensorik sollen Daten erfasst und Prozesse automatisiert werden, etwa mithilfe smarter Möbel. Es gibt bereits smarte Badmöbel und Betten, allerdings handele es sich dabei um Insellösungen, die noch nicht in bestehende Systeme eingebettet wurden.

Die Technische Universität München arbeite daran, modulare Prototypen smarter Möbelstücke in ein größeres System zu integrieren. Derzeit werde an einer Reihe von Prototypen gearbeitet, um realitätsbezogene Aspekte wie etwa nicht barrierefreie Wohnungen in der Planung des Smart Home zu berücksichtigen. Künftig sollen die Systeme dann aktiv assistieren. Bei einem sensorischen Bett könnte das beispielsweise so aussehen, dass das System Bewegungsmuster erkennt und eine automatisierte, robotergestützte und im Bett integrierte Aufstehhilfe aktiviert.

Darüber hinaus sollen virtuelle Teilnahmen an kulturellen Veranstaltungen mithilfe von VR-Plattformen der Einsamkeit entgegenwirken. Als ein weiteres Beispiel nennt Professor Florina Speth ein Roboter-Café, bei dem Menschen Roboter steuern, die aufgrund von Krankheiten nicht mehr ihre Wohnung verlassen und sich so als Teil der Gesellschaft fühlen können. VR kann echten Kontakt nicht ersetzen, aber laut Speth "als ein Baustein für soziale Aktivierung gegen Einsamkeit sorgen".

Bevor es überhaupt zum Einsatz von AAL und weiteren Systemen kommt, ist es laut Speth wichtig, dass die Beteiligten in einer Pflegeverfügung festlegen, welche Hilfen sie in Anspruch nehmen wollen. Nicht jeder möchte zu Hause oder im Pflegeheim mit smarten Systemen leben. Daher müssen Menschen vorher über die Möglichkeiten informiert werden und selbst festlegen, wie sie altern wollen. Insgesamt müsse auch überlegt werden, welche Anwendungen im Alltag der pflegebedürftigen Person sinnvoll sind. Zudem brauche es für Pflegebedürftige staatliche Hilfen, beispielsweise für ein barrierefreies Wohnen. Weitere Studien seien nötig, um herauszufinden, welche Maßnahmen sinnvoll und umsetzbar sind und in der Gesellschaft Akzeptanz finden.

Neben den genannten Hilfen für Pflegebedürftige ist es Speth zufolge wichtig, den bürokratischen Aufwand, ähnlich wie bei Ärzten auch, zu reduzieren, da die Dokumentation und weitere Schreibtätigkeiten inzwischen 40 Prozent der Zeit der Pflegekräfte ausmachen. Nach dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) können sich seit Juli 2021 auch Pflegeeinrichtungen an die Telematikinfrastruktur – dem Gesundheitsnetz – anbinden lassen. Ab 2024 ist die Anbindung an die TI auch für die Pflege verpflichtend.

"Auf den Herstellern laste ein enormer Kostendruck", wie Amir Humanfar sagt. Er ist Mitgründer des Unternehmens HUM Systems, das die altersgerechte Sensorstation Livy entwickelt hat. Seit Ende vorigen Jahres können sich Hersteller mit ihrer DiPA beim Bundesamt für Arzneimittel- und Medizinprodukte (BfArM) für eine Aufnahme ins DiPA-Verzeichnis bewerben. Die Aufnahme sei jedoch, wie bei den DiGA auch, ein langwieriger Prozess. Unklar sei zudem, in welcher Höhe die Kosten für die DiPA durch die Pflegeversicherungen gedeckt werden. Die Prozesse von der Beantragung bis zur Bewilligung seien von Bundesland zu Bundesland verschieden.

Werden smarte Hilfsmittel zu Hause eingesetzt, müssen die Kosten laut Humanfar von den Betroffenen selbst getragen werden, denn die Beantragung für den Hilfsmittelkatalog bei den Kranken- oder Pflegeversicherungen oder für digitale Pflegeanwendungen (DiPA) ist sehr aufwendig. Werden Hilfsmittel im Pflegeheim eingesetzt, müssten die Pflegeheime auch dort die Kosten selbst tragen. Bei den digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) werden die zum Teil hohen Kosten von den Krankenkassen stark kritisiert. Zudem ist nach Ansicht der gesetzlichen Krankenkassen ein Mehrwert derzeit noch nicht erkennbar. Ob dies auch bei den DiPA der Fall sein wird, bleibt abzuwarten: Bisher ist noch keine DiPA zugelassen, zudem habe erst ein Hersteller beim BfArM die Zulassung beantragt.

(mack)