Big Brother Award 2024: Die üblichen Verdächtigen

Am Abend werden in Bielefeld die Big Brother Awards 2024 vergeben. Mit Karl Lauterbach wird nicht zum ersten Mal ein Gesundheitsminister ausgezeichnet.

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(Bild: Big Brother Awards)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Detlef Borchers
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In diesen Minuten beginnt in Bielefeld die Galaveranstaltung zum Big Brother Award. Firmen und Behörden, die den Datenschutz nicht ernst nehmen, bekommen einen Preis und werden mit einer Laudatio gewürdigt. Doch damit nicht genug: Auf der wieder in den Herbst verlegten Veranstaltung wird erstmals ein philosophisches Konzept ausgezeichnet.

Seit 24 Jahren gibt es die Preisverleihung der Big Brother Awards. 2024 kann ein kleines Vorab-Jubiläum gefeiert werden: Genau 20 Jahre nach der Preisträgerin Ulla Schmidt erhält ihr damaliger Mitarbeiter und heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach den Award in der Kategorie Gesundheit. Mit dem Preis wird die von ihm vorangetriebene Umsetzung des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes gewürdigt, mit dem Deutschland sich dem europäischen Gesundheitsdatenraum (European Health Data Space, EHDS) öffnen soll. Nicht der Primärzweck von "Gesundheitsdaten", die Diagnose und Behandlung von Krankheiten, sondern der Sekundärzweck ist der Jury dabei ein Dorn im Auge. Dies wurde Ende 2023 auch auf dem Chaos Computer Congress bemängelt.

Die Nutzung von Gesundheitsdaten als Forschungsdaten kritisiert Laudator Thilo Weichert als verfassungswidrig. In letzter Konsequenz führe das Gesetz zur Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht, wie dies auch Ärzte befürchten. Zwar kann man der Nutzung der in einer elektronischen Patientenakte (ePA) gespeicherten Daten zu Forschungszwecken widersprochen werden, indem man die Einstellung der ePA-Daten in das nationale Forschungsdatenzentrum (FDZ) untersagt, doch mehr ist nicht möglich. Es gibt keinerlei Auskunfts- und Widerspruchsrechte für die im FDZ pseudonymisiert gespeicherten Daten. Man kann also nicht dagegen widersprechen, wenn die Daten beispielsweise zu KI-Trainingsdaten werden. "Es gibt keine Vorkehrungen dagegen, dass meine Daten für militärische Forschung zur Erhöhung der Wirksamkeit bestimmter Kampfstoffe genutzt werden", warnt Weichert. Das müsse eine gesetzgeberische Selbstverständlichkeit sein.

Während es eine Selbstverständlichkeit sein dürfte, ein Ministerium auszuzeichnen, das selbst eigene Datenanalysen mit den FDZ-Daten durchführen darf, hat der Negativpreis für ein philosophisches Konzept keinen Adressaten. Der Preis für übergriffigen Paternalismus bleibt so etwas wolkig. Am besten wird er wohl am Beispiel einer Gesundheits-App erklärt, die ihre Nutzer gängelt, wenn diese Schokolade essen. Das Konzept des Technikpaternalismus entstand, als sich Forscher mit dem Internet der Dinge beschäftigten. Wasserkocher, die pausenlos piepen, aber auch der Fußball mit dem integrierten Chip zur Torlinientechnik sind für die Big Brother-Jury Ergebnisse dieser Gängelei.

Zweifel kann man haben, was die öffentlichen Verkehrsmittel anbelangt, die beim Schließen von Türen blinken und bimmeln. Schließlich gibt es technische Richtlinien, die besagen, dass auf blinde oder taube Fahrgäste Rücksicht genommen werden muss. Auch die Idee eines App-freien Handys auf Basis des KI-Interfaces Natural von Brain, im Frühjahr von der Deutschen Telekom auf dem MWC Barcelona vorgestellt, ist technikpaternalistisch. Wie diese Bevormundung beendet werden kann, zeigt das Manifest für eine neue digitale Wirtschaft, das Digitalcourage als Veranstalter der Big Brother Awards mitunterzeichnet hat. Was den Preis für ein Konzept erklärt.

Ein echter Klassiker ist hingegen der Preis für die Überwachungstechnik, die die sächsische Polizei mit dem Einsatz des Personen-Identifikations-System (PerIS) fast ohne Konkurrenz für sich entscheiden konnte. Zur Umgehung einer verbotenen anlasslosen Überwachung in Echtzeit hat man sich den Kunstgriff einer nachträglichen Überwachung einfallen lassen. Das Material wird "später" ausgewertet, wobei "später" nicht definiert wurde. "Es reichen vermutlich einige Sekunden Verzögerung, um nicht in Echtzeit zu arbeiten", erklärt Laudator Frank Rosengart vom Chaos Computer Club.

Ein ähnlicher Trick war schon beim Kennzeichen-Scanner Kesy gefunden worden, mit dem sich die Polizei Brandenburg im Jahre 2020 den Big Brother Award sicherte. Der Preis wurde zwei Jahre von einer Entscheidung des Landgerichtes Frankfurt (Oder) getoppt, dass die Dauermaßnahme rechtswidrig war. Ähnlich sieht es in Sachsen aus. Hier soll der Verfassungsgerichtshof die Zulässigkeit des Systems prüfen, woraufhin PerIS in der aktuellen Form gestoppt wurde. Dennoch darf sich der sächsische Innenminister Armin Schuster über einen Big Brother Award freuen, weil er "uns als PerIS-Pionier eine Kostprobe von dem gegeben hat, was uns demnächst in der EU erwarten könnte, wenn die Regierungsparteien den Einsatz von biometrischer Kontrolle nicht deutlich einschränken."

Ein echter Pionier ist auch die Deutsche Bahn. Bereits bei der allerersten Preisverleihung anno 2000 war sie dabei und kassierte die Auszeichnung für die Videoüberwachung im Bereich der DB-Bahnhöfe nach dem 3S-Konzept von Hartmut Mehdorn. Diesmal siegt sie in der Kategorie Mobilität, weil sie "die Digitalisierung dafür einsetzt, sich nach und nach komplett unmöglich zu machen". Bahncards sind auf das Smartphone gewandert, dessen Rufnummer im Reisezentrum zwingend angegeben werden muss, wenn man Sparpreis- oder Supersparpreis-Tickets kauft – am Fahrscheinautomaten ist das nicht mehr möglich. Auch das Deutschland-Ticket der Bahn ist nur elektronisch zu haben.

Schließlich gibt es noch die Bahn-App "DB Navigator" und eine Klage von Digitalcourage gegen den nicht abschaltbaren Einsatz vieler Tracker in dieser App. Am Ende der Digitalisierungskette kommt das Smartphone des Zugbegleiters und die Ticketkontrolle. Hier sorgt eine App namens Mosaik dafür, dass der Reiseweg aller Fahrgäste nachverfolgt werden kann. Unerkannt und umweltfreundlich durch die Republik zu reisen ist so fast ein Ding der Unmöglichkeit, so die Jury. "Warum die Möglichkeit, sich unerkannt in unserem Land frei bewegen zu können, wichtig ist? Weil wir als Bürgerinnen und Bürger an allererster Stelle Souverän dieses Staates sind und nicht Mobilitätsverschiebemasse, Verdachtsfall oder Marketingobjekt", so Padeluun von Digitalcourage in seiner Laudatio.

Eine Verschiebemasse der ganz besonderen Art produzieren die chinesischen Handelsplattformen Temu und Shein, die täglich im belgischen Lüttich zwischen 400.000 und 500.000 Pakete anlanden und damit den Zoll austricksen. Auch deutsche Kunden werden so in Gefahr gebracht, vom Zoll für Plagiate oder andere Schutzrechtsverstöße belangt zu werden. Big Brother Awards erhalten sie jedoch hauptsächlich für ihre Datenschutzrichtlinien und Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die die Kundenrechte maximal begrenzen – wenn sie überhaupt verständlich sind.

Als der Jurist und Laudator Peter Wedde die einschlägigen Erklärungen auf den Webseiten von Temu und Shein untersuchte, fand er zuhauf verunglückte Formulierungen wie "Vertragssprache ist Deutschland". Bei der Einwilligung zur Datenverarbeitung von Shein fand er einen italienischen Text zusammen mit den Antwortmöglichkeiten "Gestione dei cookie", "Alle ablehnen" und "Annehmen". Beide Handelsplattformen weisen in ihren Compliance-Passagen darauf hin, dass sie eine gesetzliche Verpflichtung gegenüber dem chinesischen Staat hat. Bei Shein heißt es etwa "Wir haben das Recht, Ihre personenbezogenen Daten zur Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung offenzulegen". Das widerspricht der europäischen DSGVO, die enge Grenzen für die Verarbeitung von Kundendaten aus Deutschland in China zieht. Grund genug, den beiden umstrittenen Anbietern einen Big Brother Award zu schenken.

(vbr)