Brasilien geht online und lässt Europa hinter sich

Brasilien geht online. Das Land, das in Europa vor allem für Fußball, Karneval und bedrohten Regenwald steht, setzt dem alten Kontinent Wegmarken auf dem Sprung in das "elektronische 21. Jahrhundert".

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Von
  • Hans-Hermann Nikolei
  • dpa

Brasilien geht online. Das Land, das in Europa vor allem für Fußball, Karneval und bedrohten Regenwald steht, setzt dem alten Kontinent Wegmarken auf dem Sprung in das "elektronische 21. Jahrhundert". Schon 90 Prozent der acht Millionen brasilianischen Steuerzahler geben ihre Steuererklärungen über das Internet oder auf Diskette ab. Zwölf Millionen Brasilianer gehen regelmäßig "online". Das seien 70 Prozent der lateinamerikanischen Internetnutzer, heißt es im Außenministerium von Brasilia. Gleichzeitig leben vor allem im Norden des 8,5 Millionen Quadratkilometer riesigen Landes noch Millionen Bauern fast völlig abgeschnitten von der Zivilisation in Subsistenzwirtschaft.

Im reichen Süden werden dafür selbst in manchen Elendsvierteln von Rio de Janeiro oder Sao Paulo, den "Favelas", Internet-Cafes zur Ausbildung von Jugendlichen genutzt. "Die Internetbegeisterung ist hier gewaltig", berichtet der Direktor des Startup-Förderers VentureLabs Brasil (Campinas), Rolf Leeven, in Sao Paulo der dpa. Der Staat geht mit gutem Beispiel voran. Valdemar Carneiro Leao, Leiter der Wirtschaftsabteilung im Außenministerium von Brasilia, spricht von einer Internetrevolution. "Wir haben unsere Ministerien und Ämter vernetzt", sagt er. "Das geht nicht nur um Home-Pages und E-Mail, sondern um Online-Verwaltung und öffentliche Angebote im Internet." Außerdem forciert der Staat den Ausbau des Glasfasernetzes in dem riesigen Land. Viele Schulen wurden nach offiziellen Angaben mit Internetanschluss ausgestattet. Lehrer in entlegenen Gebieten werden über das Netz weitergebildet. Auch Internet- Fernsehprogramme sprießen wie Pilze aus dem Boden.

Mitarbeiter des Projektes Favela Bairro, mit dem Elendsviertel von Rio zu "normalen" Stadtvierteln aufgewertet werden sollen, verweisen auf Erfolge bei der Jugendarbeit am PC. Mit der Arbeit am Bildschirm seien viele Jugendliche erheblich stärker als zum Beispiel mit Handwerksarbeiten zu motivieren, sich zu qualifizieren, um sich aus dem Elend zu befreien. Die Projekte konzentrieren sich allerdings auf übersichtliche kleine Favelas – in den großen ist die Angst der Helfer vor der Drogen- und Gewaltkriminalität zu groß. Immerhin zwei Millionen der 5,5 Millionen Einwohner Rios leben in Favelas oder anderen "Problemgebieten".

Bei ihrem Sprung in die virtuelle Welt der Zukunft setzen die Brasilianer auf eigene Kraft. Wie beim Aufbau der eigenen lukrativen Flugzeugindustrie (Embraer) standen längerfristige Investitionen in das Hochschulwesen Pate. Zudem greift der Staat Firmengründern direkt unter die Arme. Mit bis zu 300.000 Real (360.000 Mark) können "Startups" für den Anschub rechnen. "Was fehlt, ist Venture-Kapital für die zweite Phase", sagt Leven. "Die Banken sind zu vorsichtig."

Brasilianische Softwarefirmen finden mittlerweile den Weg auf den Weltmarkt. Die Firma GDM Informatica aus der Technologiestadt Campinas beschäftigt 1.000 Mitarbeiter. Der Anbieter von Software für Banken und Großunternehmen hat mit 40 Mitarbeitern auch den Sprung nach Deutschland gewagt. US-Firmen wie Motorola und Compaq haben in Brasilien eigene Produktionen aufgebaut – und werben Fachleute mit lukrativen Angeboten nach Kalifornien ab.

Was fehlt, seien die Deutschen, klagt Carneiro Leao. Wie schon bei der Privatisierung der Telefonunternehmen und Banken halten sich die deutschen Unternehmen bei Investitionen in andere Wachstumsbranchen zurück. Bei den ausländischen Beteiligungen am brasilianischen Privatisierungsprogramm in den Jahren 1991 bis 2000 ist der Anteil der Deutschen mit 0,1 Prozent kaum noch erkennbar. Dafür kommen US- Amerikaner, Portugiesen und Spanier in Scharen. Auch der führende brasilianische Internetanbieter Terra, der den US-Weltmarktführer im Land weit hinter sich gelassen hat, ist fest in iberischer Hand – nämlich der der Telefonica. (Hans-Hermann Nikolei, dpa) / (jk)