zurück zum Artikel

Brexit-Drama: Sorge vor Austritt ohne Abkommen – Warnung vor "Datenchaos"

Brexit-Drama: Warnung vor

(Bild: Pixelbliss/Shutterstock.com)

Das britische Parlament hat den Brexit-Deal abgelehnt. Unklar ist, wie es weiter geht. Dabei tickt die Uhr und die Gefahr eines ungeregelten Austritts wächst.

Nach der klaren Absage des britischen Parlaments an den zwischen der Regierung in London und der Europäischen Union ausgehandelten Regelung für einen geordneten Brexit wächst die Sorge in Europa weiter. Der Digitalverband Bitkom etwa warnte am Mittwoch vor einem "Datenchaos". Sollte Großbritannien ohne Abkommen die EU verlassen, würde das Worst-Case-Szenario eintreten, warnt Bitkom-Präsident Achim Berg [1].

Berg erklärt, deutsche Unternehmen müssten britische Firmen und Kunden im Fall eines ungeregelten Brexits wie solche außerhalb der EU behandeln: "Schlimmer noch: Der Datenverkehr mit einem Land wie zum Beispiel Uruguay ist ab dem 30. März einfacher als mit dem Vereinigten Königreich." Eine Datenverarbeitung könnte dann gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO [2]) verstoßen, "mit den bekannten hohen Bußgeldrisiken". Die nötigen Umstellungen seien in der restlichen Zeit kaum zu schaffen.

Der eco-Verband der Internetwirtschaft hat die Hoffnung auf ein Abkommen noch nicht aufgegeben und sieht die Abstimmungsniederlage sogar als Chance für die Gesetzgeber auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Die könnten die Zeit nun nutzen, "relevante Vereinbarungen im Bereich des Datenflusses, der Geschäftsprozesse und der Regelung zu Verträgen zu finden". "Die Europäischen Institutionen müssen die neu gewonnene Zeit effektiv nutzen, um zeitnah praktikable Lösungen zu finden, auf deren Grundlage die rechtskonforme internationale Datenübermittlung weiterhin gewährleistet ist", fordert der eco-Chef Oliver Süme [3]. Denn die Digitalwirtschaft benötige Rechtssicherheit.

Der von Premierministerin Theresa May ausgehandelte Deal mit der EU war am Dienstagabend krachend im Parlament gescheitert: 432 Abgeordnete stimmten dagegen, nur 202 dafür. Am Mittwoch soll es eine Vertrauensabstimmung geben, die May aber wahrscheinlich gewinnen dürfte. Angesichts dieser Entwicklungen schaut Europa nun gespannt nach London: "Ein geordneter Austritt bleibt in den nächsten Wochen unsere absolute Priorität", sagte EU-Chefunterhändler Michel Barnier am Mittwoch im Europaparlament. Allerdings sei die Gefahr eines "No Deal"-Brexits so groß wie nie.

Wenn das verhindert werden soll, muss es bis zum geplanten Austritt am 29. März eine Einigung geben. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier warnte vor den möglichen Folgen eines ungeregelten Austritts: "Es würden alle in Europa verlieren", sagte der CDU-Politiker im Morgenmagazin des ZDF. Vor allem die Briten würden unter einem ungeregelten Ausstieg leiden. Dies hätte schwere Konsequenzen für Wohlstand und Arbeitsplätze. Zugleich warb Altmaier um Gelassenheit. "Ich glaube, wir sollten den Briten die Möglichkeit geben, ihre Position zu klären."

Außenminister Heiko Maas forderte die Briten dazu auf, dies schnell zu tun. "Die Zeit der Spielchen ist jetzt vorbei", sagte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk.

Bei einem Brexit ohne Deal drohen etwa im Luftverkehr chaotische Zustände. Verkehrsrechte und Betriebsgenehmigungen würden in diesem Fall ungültig. Mit Sonderregeln für zwölf Monate will die EU zumindest einige Flüge aufrechterhalten. Störungen dürften trotzdem nicht ausbleiben. Der Airline-Verband IATA fordert eine gegenseitige Anerkennung von Lizenzen sowie Sicherheits- und Industriestandards. Andernfalls müssten etwa sämtliche Gepäckstücke von Passagieren, die über Großbritannien nach Europa reisen, erneut durch die Sicherheitskontrolle. Lange Schlangen an der Passkontrolle seien unvermeidbar.

Vor besonderen Problemen steht der europäische Flugzeugbauer Airbus, der in Großbritannien etwa 14.000 Mitarbeiter beschäftigt. Im Vereinigten Königreich werden alle Flügel der Airbus-Verkehrsjets entworfen und hergestellt. "Das Worst-Case-Szenario, der harte Brexit ohne Vereinbarung, würde bedeuten, dass wir keine Teile über die Grenze bekommen", warnte der Chef der Airbus-Verkehrsflugzeugsparte, Guillaume Faury, schon im Sommer.

Für britische Fluggesellschaften wären dann Flüge innerhalb der EU passé. Probleme kann es aber auch für den deutschen Ferienflieger Condor, der zum Reisekonzern Thomas Cook gehört, und Tuifly geben, weil diese Anbieter nicht mehr mehrheitlich in EU-Eigentum wären. Die Konzerne rüsten sich mit Notfallplänen, damit ihre Maschinen auch bei einem ungeregelten Brexit nicht am Boden bleiben müssen. Für die Verkehrsrechte von Fluglinien ist nicht nur entscheidend, wo die Gesellschaft ihren Sitz hat, sondern auch, wem sie gehört. So müssen EU-Fluglinien zu mehr als 50 Prozent Eigentümern aus der Union gehören.

Zahlreiche Banken haben angekündigt, Arbeitsplätze von London in andere Finanzzentren zu verlagern. Sobald Großbritannien aus der EU ausgeschieden ist, dürfen sie nicht mehr wie bisher von London aus Finanzgeschäfte in der Gemeinschaft betreiben. Für Dienstleistungen wie Einlagen- und Kreditgeschäft benötigen die Institute rechtlich selbstständige Einheiten in einem EU-Staat. Nach jüngsten Angaben der Finanzaufsicht Bafin sind inzwischen mehr als 45 Finanzinstitute dabei, sich in Deutschland ein Standbein zu schaffen oder ihre Präsenz auszubauen. Arbeitsrechtler warnen, es sei kein Selbstläufer, dass Banker aus London die notwendige Arbeitserlaubnis in Deutschland erhalten.

Großbritannien ist der fünftwichtigste Einzelmarkt für Maschinen "Made in Germany". 2017 gingen Maschinen und Anlagen im Wert von 7,3 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich. Die Importe fielen mit 2,6 Milliarden deutlich geringer aus. Der Branchenverband der exportorientierten deutschen Schlüsselindustrie, VDMA, mahnt, die Unternehmen sollten erhebliche Verzögerungen und Engpässe beim Export und beim Import einplanen und ihre Lieferketten auf mögliche Abhängigkeiten von britischen Zulieferern prüfen. "Die Zeit bis zum 29. März drängt, Großbritannien muss jetzt rasch Lösungen aufzeigen, wie das Austrittsabkommen doch noch abgeschlossen werden kann", fordert VDMA-Präsident Carl Martin Welcker.

Das Vereinigte Königreich ist außerdem einer der wichtigsten Export-Märkte für Autos aus Deutschland. Zugleich produzieren deutsche Autobauer im Vereinigten Königreich, allen voran BMW mit den Marken Mini und Rolls-Royce. "Ohne geordnete und praktikable Lösungen für den Wirtschaftsverkehr stehen auch Jobs in der Automobilindustrie, insbesondere auf der britischen Seite, auf dem Spiel", warnte der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) Bernhard Mattes.

BMW bereitet sich auf die Möglichkeit eines chaotischen Brexits vor. In dem Rolls-Royce-Werk in Goodwood soll die jährliche Herstellungspause auf April vorgezogen werden. Die Fabrik im britischen Oxford will BMW früheren Angaben zufolge nach dem Brexit für etwa einen Monat schließen. So wolle man das Risiko von Engpässen bei Zulieferern für den Bau von Minis umgehen. Opel bereitet sich in den beiden britischen Werken der Schwestermarke Vauxhall nach eigenen Angaben auf verschiedene Szenarien vor. Konkrete Details nannte das Unternehmen nicht.

Außerdem ist Großbritannien ein wichtiger Exportmarkt und Produktionsstandort. Etwa 17.000 Mitarbeiter deutscher Firmen stellen dort laut Branchenverband VCI Vorprodukte her. Bei einem ungeordneten Brexit könnten fehlende Registrierungen oder Zulassungen für Produkte zahlreiche Lieferketten "mit einem Schlag zum Erliegen bringen" und auch Abnehmer der Auto-, Konsumgüter- und Baubranche treffen, warnte der VCI. Das Handelsvolumen der Chemie- und Pharmabranche mit Großbritannien sei 2018 schon um fast zehn Prozent auf 16 Milliarden Euro eingebrochen. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller fürchtet ferner "medizinische Engpässe" in Großbritannien. (mho [4])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4277970

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Bitkom-Praesident-Achim-Berg-zur-Brexit-Abstimmung-im-britischen-Parlament
[2] https://www.heise.de/thema/DSGVO
[3] https://www.eco.de/presse/brexit-abstimmung-zeit-nutzen-und-rechtssicherheit-fuer-digitalwirtschaft-schaffen/
[4] mailto:mho@heise.de