Cancel Culture: "Das ist das Gift, das uns gerade zersetzt"

Die Empörungskultur in sozialen Medien, die jüngst etwa bei #allesdichtmachen Wellen schlug, verbreite "Terror", hieß es zum Tag der Pressefreiheit.

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Pressefreiheit, Zensur

(Bild: wk1003mike / shutterstock.com)

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Die über Twitter & Co. praktizierte "Cancel Culture", die mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten mundtot zu machen sucht, hat laut Beobachtern in Deutschland gefährliche Züge angenommen. "Das ist das Gift, das uns gerade zersetzt", erklärte der Geschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Alexander Skipis, bei einer Debatte zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am Montag in Berlin. Wer sich darauf einlasse, überlasse den Raum denen, "die diesen Terror verbreiten".

Er teile zwar nicht die Meinung von Jan Josef Liefers und anderen Schauspielern, die mit ihrer Aktion #allesdichtmachen jüngst Zweifel an den Corona-Maßnahmen zu wecken suchten, betonte Skipis. Das Katastrophale an dem daraufhin entstandenen Shitstorm sei aber, "dass Druck ausgeübt worden ist" bis hin zu ins Spiel gebrachten Auflösungen der Verträge der TV-Lieblinge. Viele hätten sich daher bereits zurückgezogen. Sie sähen keinen Sinn darin, ihre Positionen offen zu vertreten.

Insgesamt machte der Branchenvertreter eine zunehmende "Atmosphäre der Bedrohung der Meinungsfreiheit" nicht nur in Deutschland aus. Noch schlimmer sei die Lage nicht weit entfernt: "Der Trend geht zu totalitären Staaten auch im Kern Europas." In Ungarn und Polen etwa sei die Presse "fast schon gleichgeschaltet", obwohl diese das "elementare Element einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft" sei. Despoten sähen dadurch ihre Machtposition gefährdet. Dagegen helfe es nur, "gemeinsam aufzustehen", warb Skipis zum Auftakt einer Themenwoche für das Unterzeichnen der "Charta der Meinungsfreiheit".

Man müsse die "missratene Kampagne" der Schauspieler nicht gut finden, betonte schier parallel Julia Becker, Vorsitzende des Aufsichtsrats der Funke-Mediengruppe, bei der Veranstaltung "Presse Macht Freiheit" von der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung, dem Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) und der Allianz. Sie persönlich habe sich sehr darüber geärgert, dass Liefers den Medien pauschal eine zu große Regierungsnähe und fehlende Transparenz vorgeworfen habe. Trotzdem müsse es möglich sein, diese Position zu vertreten und darauf zu reagieren. Deswegen eine "berufliche Ächtung" auszusprechen, wäre eine nicht akzeptable "Cancel Culture par excellence". Die Meinungsfreiheit dürfe nur dort enden, "wo das Strafrecht beginnt".

Diskurse würden über die sozialen Medien immer erhitzter geführt, gab auch Schauspielerin Katja Riemann zu bedenken. Das "bringt nur Diktatoren was". Sie mahnte, sich zunächst über das Interesse an Wissen und Komplexität an eine Haltung anzunähern, statt sich immer nur "Meinungen" um die Ohren zu ballern. Auch wenn man das "bei uns" dürfe, während Bürger anderer Staaten dafür "direkt einen Kopf kürzer" gemacht würden. Viel wichtigere Debatten etwa über die große Aufgabe, die Erde weiterhin bewohnbar zu halten, blieben so auf der Strecke.

Die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal warnte ebenfalls davor, über soziale Netzwerke "eine Nebenschauplatz-Debatte nach der anderen aufzumachen". Sie habe sich zu #allesdichtmachen überhaupt nicht geäußert, denn "ich fand es nicht so relevant". Sie wäre eher daran interessiert gewesen, "wie die Pfleger das schaffen". Sogenannter Social-Media-Aktivismus wirke oft angestrengt und genervt, folge häufig Schwarz-Weiß-Mustern und könnte leicht als Luxus-Zeitvertreib wahrgenommen werden. Seine Berechtigung habe er aber, um – wie im Fall der Ermordung von George Floyd – auf echte Missstände aufmerksam zu machen.

Konflikte von Twitter und Facebook "bekommen erst richtige Reichweite, weil sich etablierte Journalisten darauf stürzen", meinte die Medienwissenschaftlerin Alexandra Borchardt. Diese hätten Angst, "eine Kontroverse zu verpassen". Viele Bürger seien solcher aufgeblasener Themensetzung spätestens nach Donald Trumps Twitter-Salven aber überdrüssig. Vielfältige Perspektiven hätten so oft keine Chance. Die Forscherin empfahl den Medien, inklusive Redaktionen zu schaffen, die "vieles von den radikalisierten Debatten wieder einfangen" könnten.

Zumindest die Verlage seien nicht schuld, dass sich manchmal etwas aufschaukele, hielt VDZ-Vizepräsident Philipp Welte dagegen. Twitter sei ein "spezielles Phänomen", über das sich vor allem Politiker und Journalisten austauschten. Dies werde aber allenfalls "partiell in Talkshows übertragen". Da in sozialen Medien gelte "jeder kann sagen, was ihm durch Kopf oder andere Körperteile geht", müsse der Journalismus filtern und werde seiner Aufgabe auch größtenteils gerecht.

Die über Twitter & Co. ausgeübte Cancel Culture beschrieb der Vorstand Hubert Burda Media aber als realen "unglaublichen, grauenhaften Druck über die sozialen Netzwerke", der etwa zu Drohanrufen an Redaktionen dazukomme. Der konservative Focus-Kolumnist Jan Fleischhauer habe einen Podcast machen wollen mit Frauen auch aus anderen politischen Lagern, brachte Welte ein Beispiel. Bei zwei Anläufen seien die Geladenen aber mit dem Argument abgesprungen, dass sie von ihren Peer-Gruppen mit Aggressionen überhäuft würden. Dies stelle eine "andere Form der Beschneidung der freien Presse" dar.

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Angesichts der Geschwindigkeit und Reichweite der digitalen Medien könne jeder sein Feedback so ausgestalten, "dass es umschlägt in eine sehr radikal formulierte Form von Hass und physischer Bedrohung", führte der Innenexperte der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, aus. Es sei auch nicht mehr möglich, am Rande von Corona-Demos einen O-Ton zu geben, da man sofort als Feind des Volkes verschrien werde und eine Handy-Kamera ins Gesicht gehalten bekomme. Die Polarisierung weiter voranzutreiben, die auch bei Gastbeiträgen mit dem Wort Islam in der Überschrift sofort spürbar sei, halte er für falsch.

Kuhle erinnerte daran, dass das Bundesverfassungsgericht Kriterien wie Breitenwirkung, Suggestivkraft und Aktualität für die Regulierung von Medien aufgestellt habe. Obwohl diese auf die sozialen Medien genau zuträfen und auch für die Demokratie eine immer wichtigere Rolle spielten, müssten sich die Betreiber nur an wenige staatliche Vorgaben halten. "Aber wir dürfen die Freiheitsräume nicht zerstören, die sich erst entwickelt haben", mahnte Kuhle. Eine Klarnamenpflicht etwa würden sich alle Despoten dieser Welt wünschen.

Markus Beeko von Amnesty International Deutschland sprach sich dafür aus, sichere digitale Räume mit unabhängigen Informationen zu schaffen. Derzeit steuerten Google, Facebook & Co. mit ihren Algorithmen die Diskurse. Deren Plattformen seien aufgrund der Werbefinanzierung auf das Bilden von Profilen und Tracking ausgerichtet. Für diese riesige Herausforderung für die Meinungsfreiheit gelte es eine Alternative zu finden. In autoritären Staaten würden derweil sogenannte Agentengesetze oder Anti-Terror-Paragrafen missbraucht, um die Pressefreiheit einzuschränken. Eine Kritik daran sei aber wohlfeil, wenn westliche Staaten Überwachungstechnologien exportierten.

(olb)