Betriebssystem VSE: Der große Unbekannte im Mainframe

Neben z/OS wird heute beim IBM-Mainframe meist an Linux als Betriebssystem gedacht. Doch auch VSE spielt noch immer eine Rolle – wir zeigen, warum.

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Von
  • Berthold Wesseler
Inhaltsverzeichnis

Im Jahr 1964 brachte IBM mit dem System/360 eine Familie kompatibler Rechner auf den Markt, die bis heute als zSeries weiterentwickelt worden ist. Neben dem „Operating System“ OS/360, aus dem das heutige z/OS hervorging, gab es als Betriebssystem für kleinere und mittlere Modelle das „Disk Operating System“ DOS, das mit dem Nachfolger S/370 über DOS/VS, DOS/VSE zum z/VSE weiterentwickelt wurde.

Die Mainframe-Interviews, Folge 10: VSE

(Bild: 

Andreas Schmitter / Heinz Peter Maaßen

)

In der zehnten Folge der Mainframe-Interviews: Geschäftsführer Hans-Dieter Lattwein (links) und Heinz Peter Maaßen, Leiter der Software-Entwicklung, werfen einen Blick auf das Betriebssystem VSE.

Heute ist z/VSE (Virtual Storage Extended) weiterhin ein Betriebssystem für IBM-Großrechner – dessen Weiterentwicklung aber Anfang Juni 2021 von IBM an die US-Firma Century Software Technologies ausgelagert wurde. Die erste Version des Betriebssystems, die von dem neuen Lizenznehmer entwickelt wurde, wird seit Mai unter dem Namen VSEn V6.3 vermarktet.

Über Geschichte, Gegenwart und Zukunft von VSE sprachen wir in dieser zehnten Ausgabe der Mainframe-Interviews mit zwei ausgewiesenen Experten des Dürener Softwarehauses Lattwein, das bereits seit 1973 Werkzeuge zur Anwendungsentwicklung für die Mainframes unter dem Namen CPG entwickelt: Geschäftsführer Hans-Dieter Lattwein und Heinz Peter Maaßen, Leiter der Software-Entwicklung.

Ihr Unternehmen ist ja praktisch von Beginn an im VSE-Markt unterwegs. Können Sie bitte kurz auf die Anfänge Ihres Hausers mit dem Betriebssystems VSE zurückblicken?

Hans-Dieter Lattwein: Die Ursprünge unseres Unternehmens liegen bei einem mittelständischen Papierveredler in Düren. Als etwa 1970 ein Verbund mehrerer Unternehmen beschloss, sich einen IBM-Großrechner zu teilen und gemeinsam zu betreiben, wurde ein S/360-Modell 20 angemietet. Dieser Rechner hatte das Betriebssystem „Disk Operating System“ DOS und kam mit 16 KByte Hauptspeicher aus; das nächst größere Modell 30 hätte zwar 32 bzw. 64 KByte Speicher gehabt, nutzte aber das kostspieligere Betriebssystem OS/360. Das war damals also mehr oder weniger eine Kostenentscheidung – zumal die Ausbildung für den Betrieb einer OS-Umgebung wesentlich länger gedauert hätte und auch umfangreicher gewesen wäre.

Heinz Peter Maaßen: Wir lebten Anfang der 70er Jahre noch die Ära der Lochkarten, Drucker und die ersten Festplatten kamen gerade erst auf den Markt. DOS kannte nur eine Partition, die Background Partition BG. Es konnten daher noch keine Programme parallel ausgeführt werden. Da hatte OS/360 schon Vorteile, weil dort mehrere Regionen parallel laufen konnten.

Anfang der 1970er Jahre kam auch im DOS ein Spooling-System hinzu, das Daten für die langsamen E/A-Systeme Kartenleser und Drucker auf schnellen Festplatten zwischenspeicherte und parallele Ausführungen von bis zu vier Partitionen ermöglichte.

Im Jahr 1972 kamen dann in USA die ersten 3270-Bildschirme auf den Markt, die mit dem Transaktions-Subsystem CICS sowohl im DOS als auch im OS eingesetzt werden konnten. Mit CICS brauchten die Rechner allerdings mehr Leistung und auch größeren Hauptspeicher. Somit wurde für den RZ-Betrieb ein System 370 Modell 135 bestellt und ersetzte die 360-20 mit 192 KByte Speicher. Ziel war es, etwa 30 Terminals lokal zu betreiben. Der virtuelle Speicher war zu dieser Zeit noch nicht erfunden – erst mit dem Betriebssystem DOS/VS Rel. 27 wurde 1972 virtueller Speicher auch im DOS angeboten und auch eingesetzt, das damit zum DOS/VS wurde. Auch das Online Verwaltungssystem CICS wurde zum CICS/VS und konnte sehr stark vom virtuellen Speicher profitieren.

Später wurden neue Zugriffsmethoden für DOS/VS und OS/VS entwickelt, namens „Virtual Storage Access Method“ (VSAM) und „Virtual Telecommunications Access Method“ (VTAM). Erstmals gab es damit für beide Systeme ein kompatibles Application Progamming Interface (API), sodass Programme sowohl unter DOS/VSE als auch unter dem OS/370-Nachfolger MVS ablauffähig waren. Lediglich bei den sogenannten UR-Unit wie Kartenleser- und -stanzer sowie Drucker und den Zugriffsmethoden wie Sequential Access Method (SAM) oder dem nativen Bandzugriff waren noch unterschiedliche Programmiertechniken notwendig.

Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre erfolgte die Umstellung auf eine neue Hardware-Technologie: CPU-Chips in CMOS-Technologie waren preisgünstiger als die bisherige bipolare Technologie und wurden erstmals im System 4300 eingesetzt. Diese Systeme kamen mit 1 MByte oder 4 MByte Speicher auf den Markt und konnten die dato eingesetzten Mainframe schnell ablösen. Im DOS-Bereich kam DOS/VSE auf – und statt OS/370 wurde MVS das angesagte Betriebssystem. Größere und leistungsstärkere Rechner wurden für beide Welten entwickelt und waren sowohl für z/VSE-Kunden als auch für z/OS-Kunden nutzbar.