Das Internet hält Einzug in die Politik

Das Internet könnte die politische Auseinandersetzung ähnlich revolutionieren wie in den 60er Jahren das Fernsehen.

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Von
  • Christian Thiele
  • dpa

"Zur elektronischen Neuwahl des Deutschen Bundestages sind heute 40 Millionen Internet-Nutzer aufgerufen." Bis solche Meldungen durch die Medien gehen, dürfte noch einige Zeit vergehen. Aber schon jetzt hält das Internet immer stärker Einzug in die Politik. Experten gehen davon aus, dass das Datennetz Stil und Inhalte politischer Auseinandersetzungen ähnlich revolutionieren wird wie in den 60er Jahren das Fernsehen. Der Berliner Soziologe Steffen Wenzel glaubt gar: "Wahlkämpfe werden in wenigen Jahren im World Wide Web entschieden."

So haben die Bewerber für die US-Präsidentschaftswahl im November Hunderttausende von Dollars investiert, um mit innovativen Internet-Seiten die Schlacht um den Einzug ins Weiße Haus zu gewinnen. "Vor allem wird das Internet eingesetzt, um für Spenden zu werben", weiß Steffen Wenzel, der die Redaktion des Hamburger Politik- Onlinedienstes politik-digital leitet. "Die Spenden werden per Kreditkarte eingezogen, aber jeder kann es im Internet nachlesen. Das ist total transparent, da braucht man keine Geldkoffer...", sagt Wenzel.

Transparenz, Interaktivität, echte demokratische Mitbestimmung: So mancher Internet-Experte verspricht sich vom World Wide Web eine Art politisches Schlaraffenland. Wenzel verweist etwa auf die amerikanische Regierung, die Gesetzentwürfe im Frühstadium auf ihre Webseiten stellt und dort zu Kritik und Verbesserungsvorschlägen einlädt. Vor allem betonen die Digitalpropheten die neuen Vernetzungsmöglichkeiten, die das World Wide Web für Umweltaktivisten, Menschenrechtsgruppen oder sonstige Nichtregierungsorganisationen (NGO) in aller Welt bietet.

Ein Beispiel ist die weltweite Kampagne gegen Landminen: Ein buntes Häuflein unterschiedlichster Vereinigungen konnte dank Internet billig und schnell eine beispiellose Kampagne entfachen. Das weltweite Medienecho brachte ihnen 1997 den Nobelpreis und der Welt eine Konvention über das Verbot von Landminen ein. Ebenfalls vorwiegend über Internet koordinierten NGOs aus aller Herren Länder ihre Aktivitäten, um im vergangenen Dezember die Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle zu blockieren.

Aus der Sicht von Jeannette Hofmann, Politikwissenschaftlerin und Internet-Forscherin am Wissenschaftszentrum Berlin, unterstützt die dezentrale Architektur des Datennetzes vor allem die Arbeit nichtstaatlicher Polit- Aktivisten. "Wegen seiner geringen technischen Voraussetzungen ist das Internet das erste wirklich globale Medium. Für einen Netzzugang reicht ein Stück Klingeldraht", unterstreicht Hofmann. So waren die westlichen Tageszeitungen während des Kosovo-Krieges voll mit E-Mail- Texten serbischer Bürger, als Telefon- und andere Leitungen kaum mehr funktionierten.

Autoritäre Staaten wie China, Burma oder Weißrussland wissen, dass das Internet wie ein digitaler Lautsprecher denen eine Stimme verleiht, die sich sonst kein Gehör verschaffen können. Deshalb kritisierte die Pariser Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen vor kurzem in einem Bericht "20 Feindstaaten des Internet", die versuchen, die Maschen des Datennetzes zu schließen und damit die freie Meinungsäußerung zu strangulieren.

Genau die entgegengesetzte Mission verfolgt der Parlamentarische Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, Siegmar Mosdorf (SPD): Er verspricht eine Online-Offensive, die bis zum Jahr 2005 den Anteil der Internet-Nutzer von derzeit neun auf dann über 40 Prozent anheben will. "Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich heute anders als zu Beginn des Industriezeitalters: Wie können wir die Chancengleichheit in der Informationsgesellschaft herstellen?" Denn Skeptiker verweisen darauf, dass auch in entwickelten Ländern der so genannte digitale Graben zwischen informierten, in der Regel wohlhabenden Internet- Nutzern, und einer beträchtlichen Minderheit derer, die keinen Online-Zugriff haben, immer tiefer klafft.

Andere befürchten, das Internet werde die politische Debattenkultur verflachen. Als Beweis für die Skandalisierung der Politik durch das Internet sehen Viele die Veröffentlichung des Starr-Reports: Als im September 1998 auf verschiedenen Web-Seiten der Untersuchungsbericht des US- Sonderermittlers mit schlüpfrigen Details über die Sex-Affäre Bill Clintons zu lesen war, brach auf den entsprechenden Seiten ein Ansturm von Millionen interessierter Surfer los. Und wer heute die elektronischen Rundbriefe liest, die die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten regelmäßig an Abonnenten senden, erfährt beim einen Bewerber, dass der Lieblingshund gestorben, beim anderen, dass ein Sohn zur Welt gekommen ist.

Dass Ähnliches auch in Deutschland bevor steht, glaubt SPD- Pressesprecher Michael Donnermeyer jedoch nicht. "Die deutschen Wähler wollen von den Parteien anderes wissen als in den USA. Das ist keine Frage des Mediums, sondern eine Frage der politischen Kultur." (Christian Thiele, dpa) (jk)