Die größte Baustelle der Welt

Der US-Fotograf Philipp Scholz Rittermann macht mit riesigen Panoramabildern Chinas Superlative erfassbar und erfahrbar. Seine Fotografien zeigen ein Land im Bauboom, bei dem Umweltschutz und Arbeitsbedingungen auf der Strecke bleiben.

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(Bild: Philipp Scholz Rittermann)

Der US-Fotograf Philipp Scholz Rittermann macht mit riesigen Panoramabildern Chinas Superlative erfassbar und erfahrbar. Seine Fotografien zeigen ein Land im Bauboom, bei dem Umweltschutz und Arbeitsbedingungen auf der Strecke bleiben. Sein Projekt „Emperor’s River“ führte ihn mehr als tausend Kilometer entlang des Großen Kanals, der das Land von Norden nach Süden verbindet. Arm und Ultrareich, Tradition und Moderne, Ackerbau und Betonwüsten prallen dort wie in seinen Bildern aufeinander. Wir haben mit Phillip Scholz Rittermann gesprochen.

Frage: Venedig ist bekannt für seinen Canal Grande, China eher für die große Mauer. Für Ihr Projekt „Emperor’s River“ haben Sie dort entlang des Großen Kanals fotografiert – haben die Chinesen den jetzt auch schon nachgemacht?

Rittermann: Mit dem Bau von Chinas Großem Kanal wurde schon 460 vor Christus begonnen. Ohne ihn wäre China wirtschaftlich und kulturell nie so weit gekommen. Er ist mit 1700 Kilometer Länge das größte Wasserbauprojekt der Welt und verbindet Peking im Norden und Hangzhou im Süden. 21 Städte liegen an seinem Ufer, die meisten haben Millionen von Einwohnern. Er soll nun sogar Weltkulturerbe werden.

Insgesamt zweieinhalb Monate sind Sie von Süden nach Norden und wieder zurück nach Süden gereist. Was fanden Sie denn an dem langen, langen Kanal so spannend?

Rittermann: Im Herbst 2009 war ich zu einer Foto-Biennale nach China eingeladen. Ich hatte so viel über dieses Land gehört, aber all diese gigantischen Zahlen über Wachstum, Export, Umweltverschmutzung waren so abstrakt. Bei der Recherche stieß ich auf den Kanal und nahm ihn als Leitfaden. An ihm konnte ich abbilden, was mich am meisten interessiert: Wie der Mensch sich ausbreitet. Es ist mein Versuch, den Zahlenmassen einen visuellen Kontext zu geben.

Und wurden all die Zahlen für Sie fassbarer?

Rittermann: Fassbarer schon, allerdings ist die Realität vor Ort oft umwerfend. Manchmal erschien es mir so, als würde ich während eines Sandsturms mit einer Zahnbürste versuchen den Gehweg freizuhalten. Ich mache mir keine Illusionen, dass meine Bilder den Kurs der rasanten Entwicklung in China irgendwie ändern könnten. Aber ich finde es wichtig, so viel wie möglich darüber zu wissen.

(Bild: Philipp Scholz Rittermann)

Was haben Sie durch Ihre Arbeit besser verstanden?

Rittermann: Zum Beispiel, dass all diese Statistiken ein falsches Gefühl der Sicherheit vermitteln. Die Messung und Darstellung von Wachstums-, Verschmutzungs-, Energie-, und Zins-Daten suggerieren Übersicht und Kontrolle. Vor Ort aber ist von Kontrolle kaum etwas zu sehen – vor allem, was Umweltschutz und Arbeitsbedingungen anbelangt. Regierungen neigen dazu, ihre am häufigsten vorkommenden Ressourcen zu missbrauchen. In China ist es die Bevölkerung.

Und die Menschen dort machen das mit?

Rittermann: Pauschal gesagt: Die Meisten wünschen sich ein modernes Leben. Sie sind stolz, dass China wieder eine Weltmacht ist. Und vielen geht es besser als früher. Aber die sozialen Unterschiede werden größer. Die Arbeitsbedingungen sind teilweise katastrophal. Der Kapitalismus wuchert wie im Wilden Westen. Die Umwelt leidet enorm. Die Luft ist so verschmutzt, dass ich Atemprobleme bekam.

In einigen Ihrer Bilder sieht man im Hintergrund auch die Kohlekraftwerke emporragen, die die Luft verpesten. Wenn sie nicht die Sicht auf den Himmel versperren, dann sind es ganze Fronten von Wolkenkratzern...

Rittermann: ... irgendwann habe ich die gar nicht mehr wahrgenommen. Es wird einfach überall gebaut. Obwohl so viel leersteht. Dabei pumpt sich eine riesige Immobilienblase auf. Historische Bauten werden abgetragen und woanders aufgebaut – in einer Art Geschichtspark. Diesen Zyklus kennen wir gut. Alle industrialisierten Länder haben etwas Ähnliches durchlebt. Das chinesische Volk ist so hungrig nach modernem Leben, dass gebaut und gebaut wird. Nur haben wir die Modernisierung eines Landes in dieser Größe und Geschwindigkeit noch nie gesehen.

(Bild: Philipp Scholz Rittermann)

Welche Auswirkungen hat das?

Rittermann: Die chinesische Gesellschaft war traditionell eine horizontale. Man lebte in kleinen Häusern eng nebeneinander. Jetzt sind es anonyme, vertikale Wohnsilos. Was dort aufkeimen wird an Vereinsamung, Entfremdung und Verbrechen, ist noch gar nicht abzusehen.

Wie haben Sie sich vor Ort gefühlt, konnten Sie frei alles fotografieren?

Rittermann: Noch nie bin ich in einem Land gewesen, wo ich mich so fremd, und gleichzeitig so sicher gefühlt habe. Mit Hilfe meines Dolmetschers kam ich in viele Fabrik rein und auf viele Baustellen. Ich konnte fast überall fotografieren. Der Große Kanal ist aber auch kein heikles Projekt. Auch wenn es nun eine Kontroverse um eine Wasserumleitung gibt, die ein Drittel des Wassers wieder zurück nach Norden pumpen soll, um Pekings chronischen Wassermangel zu dämpfen.

Ausgestellt sind Ihre Werke riesig. Das Bild der gigantischen Hochhaus-Baustelle etwa ist mehr als drei Meter lang. Wie in einem Wimmelbild gibt es zig Details zu entdecken. Soll das bewusst alles bigger than life sein?

Rittermann: Wenn ich dort stehe, kann ich diese Szene nicht in einem Blick einnehmen. Die Bilder haben einen Winkel, der weiter als das menschliche Sichtfeld ist. Das ist und soll überwältigend sein. Es soll die Größenordnung von dem, was sich dort abspielt, spürbar machen. Der Eindruck ist fast wie Kino. Man begibt sich in die Bilder hinein. Es gibt nicht den einen Mittelpunkt, sondern viele. Denn genauso komplex ist China.

Die Panoramabilder sind aus drei bis manchmal sogar 20 verschiedenen Aufnahmen zusammengestellt, die zeitlich versetzt sind. Wollen Sie nicht nur die Grenzen des Sehens, sondern auch die der Zeit außer Kraft setzen?

Rittermann: Genau. Ich empfinde es als Tyrannei, dass ich immer im Jetzt stecke. So, als ob ich die Welt nur durch einen Spalt in der Gardine sehen kann. Den Moment jetzt und den von vor zwei Minuten kann ich nicht beieinander haben, das finde ich unheimlich frustrierend. Ich will über meine Sinne hinaus sehen und empfinden können. Mit dieser Art der Fotografie schaffe ich das.

Was können wir aus Ihren Bildern lernen?

Rittermann: Als ich in den siebziger und achtziger Jahren in Deutschland lebte, wurden Kohle- und andere Schwerindustrien langsam abgebaut. Das Ruhrgebiet ist heute grün. Wir im Westen tun so, als hätten wir alles saubergemacht, aber wir haben es einfach nach China rübergeschoben. Und es bläst alles wieder her. Was wir tun, was wir kaufen, es bedingt, was dort, in der Werkstatt der Welt, passiert. Wenn wir die ganzen Produkte nicht haben wollten, würde China heute nicht so aussehen.

Wie geht es weiter in China?

Rittermann: Die Kommunistische Partei sitzt auf einem Pulverfass: Solange die Wirtschaft wächst und das Einkommen für Otto Normalverbraucher langsam steigt, können sie den Deckel draufhalten. Wenn das nicht mehr der Fall ist, dann bricht alles auseinander. In der Geschichte Chinas gab es viele blutige Revolutionen. Es ähnelt dem Römischen Reich, eine Demokratie wird das meiner Ansicht nach nie. Es bedarf einer eisernen Faust, die alles zusammenhält. Früher waren es Dynastien, jetzt ist es die Partei.

  • Das Interview führte Daniele Zinser für seen.by. Auf deren Internetseite gibt es zahlreiche Motive von Philipp Scholz Rittermann auch zum Ausdrucken auf Dibond, Acrylglas oder Leinwand.

(keh)