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Disco Elysium durchgespielt: Eine Frage hätte ich da noch...

Fabian A. Scherschel
Disco Elysium durchgespielt: Eine Frage hätten wir da noch...

(Bild: ZA/UM)

Das RPG eines kleinen estnischen Entwicklerstudios ist eines der besten Detektiv-Spiele aller Zeiten – und der Überraschungs-Hit des Jahres.

Eine halbes Dutzend Menschen sind tot, mein Partner liegt im Krankenhaus und zwei Verdächtige sind mir entwischt und auf der Flucht – auf den ersten Blick wirkt die Bilanz meiner Mordermittlung desaströs. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass ich den richtigen Verdächtigen festgenommen habe. Ob er später vor Gericht verurteilt werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Das Endergebnis der Ermittlung im Detektiv-RPG Disco Elysium hat fast genauso viele Nuancen und Schattierungen, wie die Person des Detektivs, die sich der Spieler im Laufe der Untersuchung zusammenbaut. Gepaart mit der einfallsreichen Story macht diese Wandelbarkeit den größten Reiz des Spiels aus.

Auf den ersten Blick ist Disco Elysium ein der Tradition von Pen-und-Paper-Rollenspielen verpflichtetes, klassisches CRPG. Die isometrische Perspektive und mit groben Strichen gezeichneten Texturen sind uns mittlerweile durch eine neuerliche Renaissance solcher Spiele sehr geläufig. Dahinter versteckt sich allerdings ein Kunstwerk, das seines Gleichen sucht. Disco Elysium verbindet auf sehr geschickte Weise das CRPG-Genre mit Elementen aus Point-und-Click-Adventures und schafft es so, dass vielleicht beste Detektiv-Spiel in der Geschichte der Videospiele abzuliefern.

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Der Krimi ist eins der befahrensten literarischen Pflaster und auf der Leinwand jagt eine Show über Kripo-Beamte die andere. Umso verwunderlicher ist es, dass es bisher sehr wenige Umsetzungen dieses Cop-Show-Genres in der Welt der Videospiele [2] gab. Disco Elysium, eine kleine Produktion des winzigen Indie-Entwicklers Studio ZA/UM aus Estland, liefert nun endlich, worauf wir seit Jahrzehnten warten. Es versetzt den Spieler in eine Parallelwelt der 1980er Jahre in der Metropole Revachol, die so etwas wie ein alternatives Nachkriegs-Berlin oder eine moderne, extraterritoriale Hansestadt abbildet. Nach einer gescheiterten kommunistischen Revolution übernahm eine ultraliberale, kapitalistische Handelsunion die Kontrolle.

Fabian A. Scherschel

Disco Elysium besticht vor allem durch seine außergewöhnlichen Dialoge.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Französische, finnische und russische Einflüsse mischen sich mit dem Englisch der Texte und der Sprachausgabe des Spiels und geben der Welt Elysium einen sehr eigenen Charakter. Eine deutsche Fassung ist momentan nicht geplant, wer in Revachol auf Verbrecherjagd gehen will, sollte also im Englischen ziemlich firm sein.

Disco Elysium findet gänzlich in einer mehrere Häuserblöcke umfassenden Nachbarschaft im Stadtteil Martinaise statt. Martinaise ist einer der ärmsten und miserabelsten Flecken in Revachol und zu allem Überfluss befinden wir uns mitten im Winter. In dieser unwirtlichen Umgebung erwacht ein zuerst einmal namenloser Mordermittler aus einem Party-induzierten Kater der Hölle.

Fabian A. Scherschel

Das Gesicht unserer Hauptfigur ist vom Alkoholmissbrauch schwer gezeichnet.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Der bei Videospielen äußerst beliebte Amnesie-Plot bekommt hier dadurch einen durchaus interessanten Spin, dass sich unser Detektiv buchstäblich das Gedächtnis weggesoffen hat. Das erlaubt es uns, den namenlosen Ermittler der Revachol Citizens Militia nach unseren Vorstellungen neu zu erfinden. In unserer knapp 60 Stunden umfassenden Kampagne kam dabei ein Ermittler heraus, der auf der Detektiv-Skala von Hercule Poirot bis Horst Schimanski ungefähr bei Frank Columbo liegt.

Von einem hochnäsigen Kunst-Kritiker-Cop bis hin zum Speed- und Alkohol-abhängigen Party-Kommunisten sind der Fantasie der Spieler beim Formen des eigenen Charakters fast keine Grenzen gesetzt. Wollen wir lieber im Columbo-Stil wirre Fragen um uns werfen und uns dumm stellen? Oder in bester Mick-Brisgau-Manier unsere Probleme dadurch lösen, dass wir sämtliche Regeln der Polizeiarbeit über den Haufen werfen und erst mal in die Wohnung des Verdächtigen einbrechen? Wir könnten die Verdächtigen auch bei jeder Gelegenheit über die moralischen Abgründe des Konsum-Kapitalismus aufklären oder ihnen einfach grimassenschneidend ein "I am the law" entgegenschmettern.

Überall in Martinaise verstreute Anziehsachen erlauben es uns zudem, der Spielfigur einen ganz neuen Look zu verpassen. Man muss also nicht das ganze Spiel in Schlaghose und Schlangenleder-Schuhen verbringen. Obwohl es sich durchaus lohnt, die grauenhafte Krawatte anzulassen – sie meldet sich den Rest des Spiels immer wieder mal zu Wort. Warum eine Krawatte in diesem Spiel reden kann? Nicht nur die Krawatte redet. Unser auf Abwege gekommener Party-Cop hat nämlich sämtlichen Aspekten seines Ichs in seinem Kopf eigene Figuren erschaffen, die fortlaufend mit ihm reden.

Fabian A. Scherschel

Beim Aufleveln verteilt man Punkte auf die verschiedenen Aspekte der Persönlichkeit des Detektivs.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Diese einfallsreiche Mechanik stellt das Skill-System des Spiels dar: Je nachdem, in welchen Aspekt seines Ichs man Punkte beim Aufleveln investiert, desto stärker oder geschickter wird die Spielfigur. Oder sie kann besser logisch denken, Ungesehenes visualisieren oder besser lügen. Die einzelnen Aspekte des Spieler-Ichs sind großartig geschrieben und passen perfekt zum jeweiligen Ausdruck der Ermittler-Seele. Die Drama-Stimme überdramatisiert natürlich alles, wohingegen die Logik immer komplett gefühllos argumentiert. Savoir Faire passt ihre Aussagen immer der aktuellen Situation an und die innere Elektrochemie will den Spieler bei jeder Gelegenheit dazu verleiten, Drogen zu nehmen. Und der Detektiv auf Speed hat in der Tat einige nicht von der Hand zu weisende Vorteile.

Ausgestattet mit diesen inneren Stimmen, einem sehr nüchternen Partner und ansonsten nichts außer den Klamotten am eigenen Körper ist das Ziel des Spiels, einen Mordfall zu lösen. Am Baum im Garten hinter dem Hotelzimmer des Ermittlers hängt nämlich eine Leiche. Seit Tagen. Und anstatt den Fall zu lösen, haben wir Disco-Musik gehört und Party gemacht. Wer übrigens einen Disco-Soundtrack als Teil des Spiels erwartet, wird lange suchen. Disco-Musik ist in Elysium genauso tot wie in unserer Realität. Natürlich kann man das in den Dialogen des Spiels beharrlich abstreiten. Genauso beharrlich wie man behaupten kann, der Name der Spielfigur sei Raphaël Ambrosius Costeau, auch wenn man schon lange weiß, dass das eigentlich nicht so sein kann. Trotz Mangels an Disco-Musik lohnt es sich übrigens, den Detektiv Karaoke singen zu lassen, falls man die Chance dazu hat. Das Ergebnis kann sich hören lassen.

Aber nicht nur der Mordfall will gelöst werden. Zuerst müssen wir einen unserer Schuhe finden, wenn wir nicht stundenlang mit einem nassen Socken rumlaufen wollen. Außerdem scheint unser Held seine Dienstmarke und – Ohgottohgott! – seine Waffe verlegt zu haben. Auf dem Weg durch die lange, gewundene Story des Spiels muss man sich außerdem mit Obdachlosigkeit, Arbeitskämpfen, Söldnern und Drogenschmugglern herumschlagen. Und man kann allerhand Neben-Fälle lösen. Etwa den des verschwundenen Mittelklasse-Ehemannes oder einen Fluch, der ein Gewerbegebiet zum Scheitern verurrteilt. Man kann auch ein paar Ravern helfen, einen Nachtklub in einer alten Kirche zu errichten. Eine Kirche, die ihre eigenen, unheimlichen Geheimnisse birgt.

Unter Drogeneinfluss, oder auch nüchtern, kann man sich in Disco Elysium derart in diese Seiten-Stories verlieren, dass man kaum Chancen hat, den eigentlichen Mordfall aufzulösen. Aber das macht nichts, denn in diesem Spiel geht es weniger darum, zu gewinnen, als die wirklich großartige Story zu erleben – wie beim Pen-and-Paper-Rollenspiel eben. Und genau wie bei solchen Rollenspielen agiert man mit der Welt, in dem man die Statistiken der eigenen Figur einsetzt, um die verschiedensten Checks zu bestehen. Auf diese Weise findet man Hinweise und Spuren, verhört Verdächtige und bekommt Tipps von den Stimmen im eigenen Kopf.

Fabian A. Scherschel

Über Gedanken, die man über längere Zeit im Kopf ausbrütet, fügt man der Spielfigur neue Fähigkeiten oder Boni hinzu.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Dabei lohnt es sich, auch schlechte Würfelergebnisse anzuerkennen und mit seinen Fehlern zu leben. Unserer Erfahrung nach macht es das Spiel viel interessanter, wenn man sich in sein Schicksal ergibt. Denn in Disco Elysium führen viele Wege zum Ziel. Auch Ergebnisse, die erst mal nach Katastrophe aussehen, können sich später als Glücksfall erweisen. Aber Vorsicht: Die physische Verfassung des Ermittlers ist derart prekär, dass man sehr schnell an Herzinfarkt sterben kann. Das fanden wir zeitnah heraus, als wir ziemlich am Anfang des Spiels in eine zu helle Lichtquelle blickten – Brustschmerzen, keine Painkiller in der Tasche, toter Detektiv.

Obwohl wir unsere Dienstwaffe schließlich wiedergefunden haben, mussten wir sie in unseren 60 Stunden in Martinaise nicht ein einziges Mal verwenden. Überhaupt kam es auch nur einmal während unserer Kampagne überhaupt zu einer Kampfsituation. In Martinaise ist es viel wahrscheinlicher, zu sterben, weil eine falsche Dialogauswahl der Spielfigur das Herz bricht, als dass man erschossen wird. Disco Elysium dreht sich vor allem um Dialoge, Beobachtungen und die inneren Gefühle der Hauptfigur; Kämpfe spielen kaum eine Rolle. Trotzdem kann einem ein kugelsicheres Kleidungsstück im richtigen Moment das Leben retten.

Selten haben wir so gute Texte in einem Videospiel erlebt. Die Welt, die Studio ZA/UM in ihrem Debüt-Spiel entwickelt hat, ist schlüssig, glaubhaft und hat überraschenden Tiefgang. Das Spiel spricht haufenweise gesellschaftsrelevante und zum Teil auch kontroverse Themen an: Sozialismus, Faschismus, Fremdenhass, Geschlechterrollen, Vergewaltigung, Mord, Drogenmissbrauch und die Rolle der Polizei in der Gesellschaft sind zentrale Themen in Disco Elysium. Hinzu kommen pointierte Beobachtungen zu Spiele-Startups, moderner Dance-Musik und eine verrückte Welt, in der Kontinente im Nichts schweben und Computer in einer Cloud aus Funkwellen rechnen.

Fabian A. Scherschel

Die Welt Elysium ist eins der fantasievollsten RPG-Settings seit Langem.

(Bild: Fabian A. Scherschel)

Die Vertonung, die sich nur auf die Hauptdialogzweige erstreckt, ist ebenfalls äußerst gelungen. Spätestens wenn der Spieler zum ersten Mal auf den jugendlichen Speed-Freak Cuno trifft, entfalten sich schauspielerische Meisterleistungen. Man kann gar nicht anders, als im einzigartigen Milieu von Revachol geradezu zu versinken. Es ist erstaunlich, was das winzige Team rund um einen Buchautor und einen Maler hier geschaffen haben. Noch erstaunlicher ist es, wenn man bedenkt, dass Disco Elysium ihr erstes Videospiel überhaupt ist.

Natürlich ist das Spiel nicht ohne Bugs und kleinere Fehler. Uns ist allerdings nichts untergekommen, was unseren Spaß an den tollen Dialogen, der atemberaubenden Welt und der innovativen aber trotzdem Nostalgie-auslösenden Spielemechanik auch nur für wenige Minuten trüben konnte.

Windows-Spieler, die sich die Frage "Welche Art Cop bist du?" stellen wollen, finden Disco Elysium für knapp 40 Euro bei Steam und GOG. Eine Version für Xbox und PlayStation 4 soll im kommenden Jahr erscheinen. (fab [3])


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