EU-Facebook-Anhörung: Mikrotargeting gerät ins Kreuzfeuer der Kritik

Ein US-Medienprofessor hat bei einer Anhörung im EU-Parlament zum Facebook-Datenskandal Mikrotargeting als "massenhafte Menschenrechtsverletzung" bezeichnet.

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EU-Facebook-Anhörung: Mikrotargeting gerät ins Kreuzfeuer der Kritik

(Bild: Benoit Bourgeois, European Union 2018)

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Die zunehmende gezielte Werbeansprache von Nutzern mit auf sie zugeschnittenen Inhalten, die auf einer genauen Analyse der persönlichen Daten der Betroffenen beruht, kam bei einer Expertenbefragung im EU-Parlament zur Affäre rund um Facebook und Cambridge Analytica nicht gut weg. Die Demokratie müsse vor der dahinterstehenden Datenjagd geschützt werden, proklamierte David Carroll, Professor an der Parsons School of Design in New York, bei der zweieinhalbstündigen Anhörung. Das entsprechende Mikrotargeting entfalte inzwischen "Makro-Effekte", indem es zu "massenhaften Menschenrechtsverletzungen" führe.

Cambridge Analytica und die Facebook-Profile

Mit dem umstrittenen Kampagneninstrument haben die Werbe- und die Social-Media-Industrie zusammen mit Militärausrüstern laut Carroll eine neue Form "psychologischer Waffen" geschaffen. Sie betrieben damit eine informationelle Kriegsführung, die etwa auf die gezielte Produktion von Falschnachrichten ausgerichtet sei. Dazu komme eine "Datenwäsche", da personenbezogene Nutzerinformationen widerrechtlich weitergereicht und teils mit weiteren Beständen vermischt würden, um die Ausgangssets "zu reinigen". Es handle sich dabei um schwere Datenverbrechen, die sich möglicherweise in Fällen wie der Trump-Wahlkampagne oder der möglichen Verstrickung im Brexit-Referendum auch gegen die Demokratie richteten.

Cambridge Analytica hatte 2016 behauptet, die Persönlichkeit aller 190 Millionen US-Wähler "psychometrisch" erfasst, einschlägige Profile erstellt und Donald Trump im Online-Wahlkampf damit maßgeblich unterstützt zu haben. Sollte es dem Big-Data-Haus wirklich gelungen sein, auf diese Weise auch nur kleine Wählergruppen beeinflusst zu haben, müssten diese schmutzigen Verfahren rasch beendet werden. Carroll habe daher Cambridge Analytica und den Mutterkonzern SCL Group verklagt, das offenbar auch über ihn angelegte Wählerdossier herauszugeben. Die Frist dafür sei gerade abgelaufen, ohne dass das britische Unternehmen dem nachgekommen sei. Damit drohe SCL nun auch ein Strafverfahren.

Die britische Datenschutzbeauftragte Elizabeth Denham, die den Skandal und andere Profiling-Maßnahmen im Rahmen politischer Kampagnen gerade auch im Auftrag ihrer EU-Kollegen untersucht, plädierte fürs Erste für eine "ethische Pause" bei der Ausspähung von Nutzerinteressen und folgender verhaltensbasierter Werbung. In dieser Zeit müssten Mikrotargeting-Prozesse genauer unter die Lupe genommen werden und die damit verknüpften zahlreichen "Graubereiche" ausgeleuchtet werden. Die dahinterstehende Technik sei offenbar weitgehend außer Kontrolle geraten und habe die Privatsphäre und Transparenzprinzipien hinter sich gelassen.

Ein Mitarbeiter Denhams erläuterte, dass an der aktuellen Untersuchung allein 40 Experten aus der Behörde sowie einige externe Sachverständige beteiligt seien. Bei Cambridge Analytica und anderen Akteuren im Bereich der sozialen Medien hätten die Kontrolleure "Hunderte Terabyte an Daten" beschlagnahmt. Einen ersten Bericht zu den bereits durchgeführten Analysen wolle die Aufsichtsbehörde noch im Juni veröffentlichen. Der Insider betonte, dass dabei "alle Sanktionsmöglichkeiten" auch nach der neuen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) auf dem Tisch lägen.

Die Bürger sollten erkennen, dass die Regulierer bei Missbrauch angemessen einschreiten, ergänzte Denham im Blick auf die breite Palette an Strafformen in dem Fall. "Wir werden Empfehlungen abgegeben, die über Großbritannien hinausgehen", kündigte sie an. Diese schlössen den Forschungsbereich ein, in dem der Datenabgriff bei Facebook seinen Ausgang nahm. Grundsätzlich verglich die Kontrolleurin Datenverbrechen mit "echten Straftaten", die die Behörden mit der DSGVO nun auch im Internet mit mehr Befugnissen und Ressourcen verfolgen könnten. Parallel sei es aber auch nötig, dass Millionen Nutzer von ihren gestärkten Rechten etwa auf Auskunft und gegebenenfalls Löschung oder Korrektur der über sie erhobenen Daten Gebrauch machten.

Sandy Parakalis, der 2011 und 2012 als Betriebsmanager bei Facebook tätig war, empfahl den Gesetzgebern, bei politischen Anzeigen Mikrotargeting zu untersagen. Dies würde den Betreibern sozialer Netzwerke und anderen Online-Firmen sehr viel Arbeit bereiten, da sie derzeit in der Regel zwischen Politmarketing und klassischer Unternehmenswerbung gar nicht unterscheiden könnten. Wichtig sei es auch, Zugangsbestimmungen zu Nutzerdaten rigoros durchzusetzen. Sonst sollten Anreize geschaffen werden, um die Risiken rund um Big-Data-Analysen etwa über einen Rahmen für Cyberversicherungen zu senken. Sicherheitsgurts in Autos hätten sich ebenfalls zunächst getrieben von Versicherungsfirmen verbreitet.

In der Cambridge-Analytica-Affäre beklagte der Praktiker, dass Facebook es auch nach der internen Aufdeckung der britischen Firma über zwei Jahre lang nicht untersagt habe, weiter auf der Plattform zu werben. Inzwischen hätten die Kalifornier zwar mehr Kontrolloptionen für den Datenschutz der Nutzer geschaffen, die aber teils "nicht so funktionieren, wie es dargestellt wird". So hätten Gerätehersteller etwa über spezielle Partnerschaften jahrelang einen gesonderten Zugriff auf Informationen über die Mitglieder erhalten, auch wenn letztere einen solchen ausdrücklich nicht wollten. Dies verstoße auch gegen die Unternehmensangaben und regulatorische Auflagen.

Nach Ansicht des Ex-Mitarbeiters hat Facebook in gewissen Kommunikationsbereichen eine Monopolstellung inne. Er riet den Abgeordneten daher, einzelne Produktlinien wie das Kernnetzwerk, Messenger, WhatsApp oder Instagram in separate Firmen aufzuteilen oder in Untereinheiten, die untereinander keine Nutzerdaten austauschen dürften.

Die Regulierer sollten zudem schon jetzt nachdenken über neue technische Entwicklungen wie "Deep Fakes", also komplett fabrizierte Videos oder Tonaufnahmen, oder Voraussagen zu Nutzerverhalten mithilfe von Künstlicher Intelligenz.

Systematische Tricks und Wahlbetrug im großen Stil warf mit Christopher Wylie der Whistleblower seinem früheren Arbeitgeber Cambridge Analytica vor, der den Skandal mit ans Licht gebracht hatte. Das Unternehmen habe mit Wissen des Mutterhauses SCL psychologisch trainierte Algorithmen nicht nur in Wahlkämpfen eingesetzt, sondern auch, um allgemein Desinformation, Gerüchte, kompromittierende Details und Propaganda zu verbreiten. Beim Brexit-Referendum sei dies mit Wissen von Beratern britischer Ministerien erfolgt. Das Recht auf freie Wahl sei damit unterlaufen worden. Als Gegenmittel brachte Wylie unter anderem den Einbau von Transparenz direkt in die Technik ins Spiel nach dem Vorbild von "Privacy by Design".

SCL habe zunächst für das britische Verteidigungsministerium gearbeitet und im Geheimen Propaganda betrieben, berichtete auch Carole Cadwalladr vom "Guardian". Im Brexit-Fall seien die dabei entwickelten Waffen dann "gegen die eigene Bevölkerung gerichtet" worden. Dabei hätten die Beteiligten über eine Reihe undurchsichtiger Technologiefirmen wie AggregateIQ in Kanada auch die gesetzlichen Bestimmungen für Spendengelder ausgehebelt. Facebook-Chef Mark Zuckerberg, der im Mai sein obligatorisches "Sorry" in einer Runde mit Volksvertretern zum Ausdruck gebracht hatte, wolle nun allenfalls den Eindruck vermitteln, bei den parlamentarischen Untersuchungen zu kooperieren. (olb)