EU-Juristen: Geheimdienste auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit bringen
Eine Reform der Kontrolle der Nachrichtendienste allein könne das Problem der Massenüberwachung im Lichte der NSA-Affäre nicht lösen, erklärten Experten in einer Anhörung im EU-Parlament. Sie forderten "rote Linien" und Gesetzesänderungen.
Die Kontrolle der Nachrichtendienste zu reformieren könne allein das Problem der Massenüberwachung im Lichte der NSA-Affäre nicht lösen, erklärten Experten in einer Anhörung im EU-Parlament am Donnerstag. Der britische Geheimdienst GCHQ zapfe Unterseekabel an, sein US-Pendant hacke sich in die Netzwerke großer Internetkonzerne wie Google oder Yahoo ein und unterwandere gängige Sicherheitsprotokolle fürs Netz, führte Gus Hosein aus, Vize-Direktor der britischen Organisation Privacy International. Angesichts derartiger Tätigkeiten sei es überfällig, die Sicherheitsbehörden auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit zurückzuführen.
Ahnungslos
Parlamentarische Kontrolleinrichtungen wüssten nicht einmal, welche Fragen sie stellen sollten, meinte der Bürgerrechtler. Vor den Enthüllungen Edward Snowdens wäre wohl kein Volksvertreter auf die Idee gekommen, von der NSA Auskunft zu erbitten, ob Verschlüsselungsstandards gebrochen werden.
Andererseits hätten die Abgeordneten in vielen Ländern "Blankoschecks" ausgestellt, so dass die Geheimdienste wie im "Wilden Westen" Daten sammeln und auswerten können. Die Gesetze müssten grundlegend überarbeitet, legitime Ziele für die Überwachung festgeschrieben und Menschenrechte geachtet werden. Erst dann könne man darüber reden, Kontrollinstanzen wiedereinzuführen.
David Bickford, Ex-Justiziar der britischen Geheimdienste MI5 and MI6, räumte letztlich ein, dass es zu spät sei, das Treiben der Spione effizient zu beaufsichtigen. Die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit müssten in den Lauschprogrammen wiederhergestellt werden. Insbesondere plädierte er aber dafür, geheimdienstliche Überwachung in Großbritannien gerichtlich kontrollieren zu lassen, um Sicherheit und Privatsphäre miteinander abzuwägen.
Bedenkenlos
Bislang kann die britische Regierung gesetzlich geregeltes Abhören und Datensammeln bei den Geheimdiensten anordnen. Dies habe früher zu keinen großen Bedenken geführt, konstatierte Bickford. Mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus und der breiten Nutzung des Internets sei die Zahl geheimer Bespitzelungen aber exponentiell angewachsen.
Sergio Carrera und Francesco Ragazzi vom Centre for European Policy Studies (CEPS) hatten zuvor in dem Untersuchungsgremium des Innenausschusses ihre Studie zu Kapazitäten und Praktiken der Geheimdienste in den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Schweden vorgestellt. Carrera votierte dafür, "rote Linien" für die Sicherheitsbehörden einzuziehen. Es gehe nicht nur um die Balance von Sicherheit und Privatheit, sondern um eine "Frage der Demokratie". Geheimdienste dürften nicht außerhalb des Rechts arbeiten, Data Mining müsse auf konkret Verdächtige eingeschränkt werden.
Den Abgeordneten empfahl der Forscher Misstrauen, wenn neue Verträge mit den USA wie dem geplanten Handelsabkommen verhandelt oder wenn bereits getroffene Übereinkünfte etwa zur Weitergabe von Finanz- oder Flugpassagierdaten geprüft werden. Sie könnten nicht länger darauf vertrauen, dass die US-Seite Grundrechte beachte.
Erfolglos
Daneben stelle der NSA-Skandal den ökonomischen Erfolg großer US-Internetkonzerne aufs Spiel, für die Daten "das neue Gold" seien, ergänzte Carreras Kollege Ragazzi. Diese müssten nicht nur auf Anfrage der Sicherheitsbehörden Kundeninformationen liefern, auch ihre internen Datenübertragungen würden weitflächig abgegriffen. Technisch könnten sich Betroffene am besten noch mit Verschlüsselungsverfahren schützen, die auf Open-Source-Programmen basierten. Bei diesen könne der Quellcode geprüft werden, sodass Hintertüren einfacher zu entdecken seien.
Interne Regeln, damit demokratische Werte von Geheimdiensten geachtet werden, reichten nicht aus, um Schaden fĂĽr demokratische Gesellschaften durch die ĂĽberbordende Spionage abzuwehren, konstatierte Iain Cameron von der "Venedig-Kommission fĂĽr Demokratie durch Recht" des Europarates.
Die Politik sei dafür verantwortlich, die Möglichkeiten der Sicherheitsbehörden einzuschränken und klarer zu fassen. Deutschland habe hier neben Schweden vergleichsweise strikte Vorgaben geschaffen, da der Bundesnachrichtendienst nicht mehr als 20 Prozent der ins Ausland gehenden Telekommunikation für die "strategische Überwachung" nutzen dürfe.
Ahnungslos
Cameron plädierte für ein "klares Verbot", anderen Sicherheitsbehörden Aufträge zum Datensammeln zu erteilen. Gefilterte Informationen nur entgegenzunehmen solle aber erlaubt bleiben. Gerichtliche Überwachungsanordnungen seien permanent durch einen externen Kreis zu prüfen und angemessen durchzusetzen. Parlamentarische Kontrollgremien müssten ein "weites und starkes Mandat" haben. Die EU-Abgeordneten könnten durch Finanzspritzen helfen, das bestehende europäische Netzwerk der Aufsichtsinstitutionen zu stärken und den Informationsaustausch auf dieser Ebene zu verbessern.
Der Leiter der NSA-Untersuchung des Parlaments, Claude Moraes, bedauerte, dass Vertreter großer Provider wie BT oder Orange auf Einladungen zur Teilnahme an der Anhörung gar nicht geantwortet hätten. Yahoo hatte zumindest eine Stellungnahme geschickt, dass das Unternehmen bei einer Aussage in Brüssel rechtliche Probleme aufgrund eines Verstoßes gegen Vertraulichkeitsauflagen in den USA befürchte. Nicht öffentlich war der erste Teil der Sitzung, in der Ilkka Salmi, Direktor des EU-Geheimdienstes Intelligence Analysis Centre (IntCen), den Volksvertretern Rede und Antwort stehen sollte. (anw)