Edit Policy: Drosselungen in der Pandemie – Hält das Internet?

Berichte befeuern Sorgen, dass das Internet mit der ungewohnten Last nicht klarkommt. Warum die für Europa nicht ganz unbegründet sind, weiß Julia Reda.

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Edit Policy: Bandbreite in der Pandemie – Hält das Internet?

(Bild: asharkyu/Shutterstock.com/Diana Levine)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Julia Reda
Inhaltsverzeichnis

SARS-CoV-2 hat unsere Lebens- und Arbeitswelt auf den Kopf gestellt. Für viele Menschen, die allein leben, sind abgesehen vom wöchentlichen Gang zum Supermarkt die täglichen Videokonferenzen und Chats mit Arbeitskolleg*innen, Familienmitgliedern und Bekannten zum einzigen sozialen Kontakt geworden. Für einige war das auch vor SARS-CoV-2 schon so. In vielen Branchen, wo Heimarbeit möglich ist, hält der Internetzugang die Wirtschaft auch in dieser Krisenphase einigermaßen am Laufen. Kinder, die zu Hause betreut werden, haben so Zugang zu Bildung und Unterhaltung.

Kolumne: Edit Policy

(Bild: 

Volker Conradus, CC BY 4.0

)

In der Kolumne Edit Policy kommentiert der ehemalige Europaabgeordnete Felix Reda Entwicklungen in der europäischen und globalen Digitalpolitik. Dabei möchte er aufzeigen, dass europäische und globale netzpolitische Entwicklungen veränderbar sind, und zum politischen Engagement anregen.

Spätestens jetzt kann niemand mehr leugnen, dass ein Breitband-Internetzugang zur Grundversorgung gehören muss. Wer angesichts der aktuellen Ausgangsbeschränkungen, insbesondere im ländlichen Bereich, keinen angemessenen Breitbandzugang bekommen kann, hat ein ernsthaftes Problem.

Das sieht auch die Europäische Union so. Mit dem Europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation, der 2018 verabschiedet wurde, werden die EU-Länder verpflichtet, allen Menschen einen erschwinglichen Breitbandzugang zu ermöglichen. Eine bestimmte Übertragungsrate ist dabei zwar nicht definiert, allerdings stellt die Richtlinie klar, dass dieser Universaldienst mindestens schnell genug sein muss, um beispielsweise Videotelefonate in Standardqualität zu ermöglichen. Leider haben die Mitgliedstaaten noch bis zum Jahre 2022 Zeit, um die neuen Regeln umzusetzen. Wer heute durch mangelnden Breitbandzugang vom Alltagsleben abgeschnitten ist, kann sich noch nicht darauf berufen.

Auch in anderer Hinsicht enthält der Telekommunikationskodex Neuerungen, die in der aktuellen Krise hilfreich wären. So wird etwa ab 2022 in allen Mitgliedstaaten ein öffentliches Warnsystem für Katastrophenfälle eingeführt, mit dem alle Handynutzer*innen per SMS oder App unkompliziert über Katastrophen und Notfälle informiert werden können. Die wichtigsten Einschränkungen, etwa zur Bewegung im öffentlichen Raum, könnten so in Zeiten von COVID-19 unmittelbar an die Bevölkerung kommuniziert werden, ohne dass diese sich aktiv über die Medien informieren müssten. Allerdings muss das auch technisch gut gemacht sein. Frankreich hat die Bevölkerung per SMS über seine Ausgangssperre informiert und dafür auf eine Webseite verwiesen, die prompt unter der Belastung der vielen gleichzeitigen Anfragen zusammenbrach.

Weil der Breitbandausbau in Deutschland jahrelang schleppend vorangegangen ist, ist das Vertrauen in der Bevölkerung nicht allzu groß, dass die Netzinfrastruktur für die steigende Auslastung infolge von SARS-CoV-2 gewappnet ist. Zur Verunsicherung beigetragen haben Nachrichten der vergangenen Tage, wonach Streamingdienste wie Netflix, YouTube und Twitch in Absprache mit EU-Kommissar Thierry Breton ihre Standardauflösung oder Bitrate reduzieren, um die Netze zu entlasten. Auf sozialen Medien befürchten einige, dass sie ihre Internetnutzung künftig rationieren müssen oder die geliebten Streamingdienste womöglich ganz abgeschaltet werden. Diese Sorgen sind glücklicherweise unbegründet.

Im Gegensatz zu den Anschlüssen der Endnutzer*innen, die noch lange nicht flächendeckend auf Breitbandgeschwindigkeiten aufgerüstet wurden, ist das Backbone-Netzwerk, in dem alle individuellen Anschlüsse zusammenlaufen, in Deutschland gut ausgebaut. Die Bundesnetzagentur berichtet deshalb, dass es trotz der gestiegenen Nutzung bislang keine Anzeichen für eine Netzüberlastung infolge von SARS-CoV-2 gibt. Sollte es in Zukunft doch zu Engpässen kommen, hat die Bundesnetzagentur einen Leitfaden veröffentlicht, wie die Telekommunikationsanbieter im Ernstfall vorgehen sollen, ohne dabei die Netzneutralitätsregeln der EU zu unterlaufen.

Handelt es sich bei der Ankündigung von Netflix, auf Aufforderung der EU-Kommission seine Bitrate zu reduzieren, also bloß um sinnlosen Aktionismus? Vielleicht nicht ganz: Richtig ist, Netflix passt bereits seit langem seine Übertragungsqualität auf die Netzauslastung an. Wenn die eigene Internetverbindung schwächelt, bricht der Netflix-Stream normalerweise nicht vollständig ab, sondern läuft mit geringerer Bildqualität weiter.

Um zu vermeiden, dass die Videostreams um die ganze Welt geroutet werden müssen und so die großen internationalen Netzwerkknotenpunkte belasten, bietet Netflix auch heute schon als Teil seines Programms Open Connect den Internetzugangsanbietern an, lokale Cache-Server zu betreiben, auf denen die populärsten Videos direkt im Netz des jeweiligen Telekommunikationsanbieters verfügbar gemacht werden. Neben diesen Cache-Servern enthält Netflix Open Connect ein Angebot zum Peering, also einem kostenfreien Austausch von Daten zwischen den Netzen verschiedener Infrastruktureigentümer. So können laufend neue Netflix-Inhalte auf die lokalen Cache-Server übertragen werden.

Es kann also durchaus der Eindruck entstehen, dass EU-Kommissar Thierry Breton mit der Netflix-Drosselung ein Problem gelöst hat, das gar nicht existierte. Breton kultiviert damit sein Image als Industriekenner, der die Chefs großer Technologiekonzerne auf Speed Dial hat. In diesem Licht gefällt sich Breton offensichtlich, Facebook-Chef Zuckerberg bezeichnet er in Interviews liebevoll als "Mark". Die US-amerikanischen Plattformanbieter bekommen im Gegenzug statt ständiger Schelte aus Brüssel lang ersehnte positive Presse, weil sie in der Krise schnell und unkompliziert mit den Behörden kooperieren.

Die ganze Wahrheit ist das aber wohl nicht. Fredy Künzler, der CEO des kleinen schweizerischen Internetzugangsanbieters init7, berichtet auf Twitter, wie Netflix seinen Geschäftspartnern die neuen Maßnahmen in einer Videokonferenz erklärt hat. Demnach ist die EU-Kommission aktiv geworden, weil einige Telekommunikationsanbieter, insbesondere in Italien und Spanien, nicht gut genug an übergeordnete Netzwerke angebunden sind.

Die Chance, frühzeitig in ausreichend lokale Cache-Server zu investieren, haben diese Anbieter offensichtlich versäumt. Netflix sieht keine Möglichkeit, in der aktuellen Krisensituation zeitnah lokale Cache-Server nachzurüsten. Das Problem könnte auch dadurch verstärkt werden, dass manche Provider das Peering verweigern. Da Netflix jetzt zügig auf die Engpässe in Italien und Spanien reagieren musste, war es technisch einfacher, die Bitrate kurzerhand für ganz Europa zu reduzieren, auch wenn die meisten Internetprovider durchaus gut auf die gestiegene Nachfrage vorbereitet sind.

Dass EU-Kommissar Thierry Breton, selbst ehemaliger CEO des einstigen staatlichen Telekommunikationsanbieters France Télécom (heute Orange), ein besonders offenes Ohr für die Probleme etablierter europäischer Telekom-Riesen hat, ist durchaus plausibel. Die neuen Maßnahmen der Streamingdienste können hier zwar unmittelbar Abhilfe schaffen, treffen aber letztlich auch die Kund*innen der Provider, die bereits frühzeitig in ihre Infrastruktur investiert haben. Es bleibt zu befürchten, dass so kaum Anreize für Verbesserungen bei der Infrastruktur der italienischen und spanischen Telkos geschaffen werden und zusätzlich der falsche Eindruck entsteht, das Problem ginge von den Streamingdiensten aus, die eigentlich durchaus gut auf die jetzige Situation vorbereitet waren.

Glücklicherweise haben die meisten Streamingdienste verhältnismäßig reagiert und lediglich die voreingestellte Übertragungsqualität angepasst. Für die meisten Anwendungsfälle, insbesondere das Streaming auf dem Laptop oder Handy, reicht diese reduzierte Qualität durchaus aus. Wer aber auf einen hochauflösenden Bildschirm oder Fernseher streamt, kann zumindest bei Twitch und YouTube wieder manuell auf die gewohnte Qualität umstellen. Dieses Vorgehen der Streamingdienste ist auch aus Perspektive der Energiesparsamkeit durchaus zu begrüßen.

Für die Endnutzer*innen lautet die gute Nachricht, dass sie ihr eigenes Nutzungsverhalten derzeit nicht anpassen müssen. Die EU-Kommission und das europäische Telekom-Regulierungsgremium BEREC bitten zwar in einer gemeinsamen Stellungnahme darum, überflüssige Breitbandanwendungen zu vermeiden, rechnet aber nicht mit einer Überlastung der Netze. Videokonferenzen, Online-Games und Streaming sind derweil natürlich alles andere als überflüssig, sorgen sie doch dafür, dass wir auch in häuslicher Isolierung arbeitsfähig bleiben und die Nerven bewahren. Bei BEREC laufen derweil die Berichte der nationalen Regulierungsbehörden zusammen, damit mögliche zukünftige Engpässe schnell erkannt werden können.

Bei so vielen Aspekten der Krise kommt es aktuell auf das Verantwortungsbewusstsein der Einzelnen an, wenn es darum geht, die Pandemie einzudämmen, besonders gefährdete Menschen zu schützen und viele gesellschaftliche Aufgaben wie die Kinderbetreuung selbst zu übernehmen. Da ist es durchaus beruhigend, dass wir uns um die Verfügbarkeit des Internets keine Sorgen machen müssen.

Die Texte der Kolumne "Edit Policy" stehen unter der Lizenz CC BY 4.0. (mho)