Elektronische Patientenakte 3.0: Versicherte wissen nicht, was auf sie zukommt
Der Start der elektronischen Patientenakte 3.0 wird begleitet von Ungewissheit und ethischen Bedenken. Risiken überwiegen mögliche Vorteile, so Experten.
Bei der neuen Version der elektronischen Patientenakte (ePA 3.0) gibt es viele Unklarheiten – nicht nur hinsichtlich des angekündigten Starttermins, wie die Teilnehmer der zehnten Kongressveranstaltung der Freien Ärzteschaft in Berlin befanden. Die ePA sei bisher nicht funktionsfähig, solle aber für 70 Millionen Patienten ausgeliefert werden. Der Begriff "dunkelgrüne Bananensoftware", die in Praxen reifen soll, sei daher ziemlich treffend.
Zu den Referenten auf der Veranstaltung zählten unter anderem auch der ehemalige Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Prof. Ulrich Kelber, sowie der ehemalige Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Prof. Jürgen Windeler. Alle Teilnehmer übten Kritik an der Umstellung der ePA auf die widerspruchsbasierte Lösung (Opt-out).
Unklarheiten bei Haftung und Datenschutz
Die wenigsten Versicherten dürften jedoch mitbekommen haben, was mit der neuen Version der elektronischen Patientenakte auf sie zukommen könnte – denn seitens des Bundesgesundheitsministeriums sind sich widersprechende Informationen im Umlauf. Nur wenige Krankenkassen informieren umfänglich über die Version 3.0 der ePA. Dabei kommen mit der ePA umfassende Zugriffsmöglichkeiten auf die Daten für die am Behandlungsprozess Beteiligten. Silke Lüder aus dem Vorstand der Freien Ärzteschaft erklärte, dass Apotheken, bei denen man verschreibungspflichtige Medikamente einlöst, im Grunde alles außer dem Zahnbonusheft einsehen können. Beim diesjährigen ePA-Summit wurde deutlich, dass zunehmend auch Versandapotheken Einsicht in die Patientenakten verlangen.
Für Ärzte hingegen kommen weitere haftungsrelevante Fragen auf. Zwar betonte die Kassenärztliche Bundesvereinigung, dass der Arzt nicht alle Dokumente in der ePA lesen müsse, allerdings sei unklar, wie das vor Gericht am Ende ausgeht. Ebenfalls übte sie Kritik daran, dass das Beschlagnahmeverbot und das Zeugnisverweigerungsrecht für Gesundheitsdaten im Gesundeitsdatennutzungsgesetz nicht enthalten sind. Das hatten Datenschützer bereits Ende 2023 bemängelt.
Unabhängigkeit der Ärzte
Die Schweigepflicht ist laut dem Vorsitzenden der Freien Ärzteschaft, Wieland Dietrich, die "Basis eines unverzichtbar notwendigen Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient". Dafür brauche es "fachliche und möglichst auch organisatorische Unabhängigkeit von Ärztinnen und Ärzten". Diese Unabhängigkeit werde zunehmend bedroht. Die neuen Regelungen mit der ePA 3.0 bedrohen laut Lüder die ärztliche Schweigepflicht, "die seit 2500 Jahren als Grundlage des Arzt-Patienten-Verhältnisses gilt".
Als "fatalen Irreweg" bezeichnete es der Vorsitzende der Freien Ärzteschaft, Wieland Dietrich, dass suggeriert wird, dass Ärztinnen und Ärzte mit den Gesundheitsdaten der Patienten einen Benefit generieren, der aus finanziellen Gründen notwendig sei – zulasten der Schweigepflicht. Derartige Anreizsysteme gebe es bereits im Sozialgesetzbuch V, etwa mit dem Wirtschaftslichkeitsbonus, den Ärzte bei "wirtschaftlicher Veranlassung und Erbringung von Laborleistungen" erhalten – also, wenn sie möglichst wenig von ihrem Laborbudget ausgeben.
Der Arztberuf werde zunehmend kommerzialisiert und durch Fehlanreize geleitet, die das unabhängige Handeln im Sinne der Patienten kompromittieren könnten, erklärte Dietrich. Eine Änderung des Sozialgesetzbuchs V, das auch der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung kürzlich als einen schnell wachsenden Tumor bezeichnet hatte, sei "nicht nur in diesem Bereich überfällig", so Dietrich. "Die Telematikinfrastruktur beschäftigt und stört die Abläufe in vielen Praxen weiterhin. Sie dient verschiedenen kommerziellen Interessen", zudem würden ihre Kosten in "gigantische Höhen" steigen.
Vertrauensvorschuss fĂĽr die ePA
Laut den jĂĽngsten Ă„uĂźerungen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach sollen bald auch Google, Meta und Co. mit den Gesundheitsdaten trainieren dĂĽrfen. Dass die Daten aus den elektronischen Patientenakten kĂĽnftig Big Tech zum KI-Training zur VerfĂĽgung stehen, sorgt fĂĽr Aufruhr. FĂĽr Windeler seien die versprochenen Vorteile der ePA aufgeblasen, gesundheitliche Vorteile seien bisher nicht zu kennen. Ăśber die Risiken und Nebenwirkungen der ePA werde ebenfalls nicht gesprochen. Es seien Ă„uĂźerungen im Umlauf, die nicht belegbar seien oder zeigen, dass es in Bezug auf die ePA kein einziges konkretes Forschungsprojekt gibt. Dabei zitierte er auch Matthias Mieves, Sprecher fĂĽr eHealth der SPD: "Die ePA funktioniert mit Vertrauensvorschuss. Erst mit den Daten kommen die Mehrwerte."
Debatte wird tabuisiert
"Wir wollen Digitalisierung, aber nicht so", verkündete Christian Messer, Chef von MEDI Berlin-Brandenburg. Schon lange warte man auf eine "vernünftige Digitalisierung im Gesundheitswesen". Zu Beginn werde es bei der ePA keinen Nutzen geben, "aber erhebliche Risiken", so Messer. Die Gesetzeslage bedeute einen Paradigmenwechsel in der ärztlichen und medizinischen Behandlung. "Schweigen wird zur Zustimmung. Das ist neu. Schlimmer noch, die Debatte darüber wird tabuisiert. Zu groß ist die Gier nach Daten und Geld", sagte Messer. Im Bundesgesundheitsministerium rede man sich bezüglich der zu hebendenden Datenschätze in Rauschzustände.
"Was interessiert denn schon HIV, Drogenkonsum, Depression, wenn man mit diesen Daten mehr Geld verdienen kann?" Und ob es nicht interessiere, wenn eine Frau mit doppelter Staatsbürgerschaft in Polen wegen eines Schwangerschaftsabbruchs verhaftet werden würde. "Das alles muss uns interessieren, es muss uns kümmern", mahnte Messer. Die neue ePA wird zudem mit einem beschränkten Berechtigungsmanagement kommen – die bisherigen drei Vertraulichkeitsstufen wird es nicht mehr geben.
Unnötige Doppeluntersuchungen als Argument?
Auch Silke Lüder äußerte Kritik an den versprochenen Vorteilen der elektronischen Patientenakte und wies auf offene Fragen hin, wie etwa zur Haftung. Sie erklärte, dass sie bereits seit Jahrzehnten mit digitalen Patientenakten arbeite und beispielsweise nur wenige Doppeluntersuchungen durch vorhandene Dokumente tatsächlich vermieden werden könnten. Ihrer Meinung nach sei es oft nützlich, den Patienten noch einmal unvoreingenommen zu betrachten. Windeler zufolge sind die Gründe für Doppeluntersuchungen unter anderem folgende:
- erste Untersuchung ist zu alt
- erste Untersuchung ist qualitativ unzureichend (objektiv oder subjektiv)
- finanzielle GrĂĽnde, falsche Anreize
- zählen für die Weiterbildung
- Patient wĂĽnscht es (und weitere GrĂĽnde)
- Erstuntersuchung liegt nicht vor
Nur der letzte Punkt könne durch ePA-Daten beeinflusst werden, so Windeler.
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