Embodied Intelligence: Ist das Gehirn überbewertet?

Wieviel können Körper regeln, ohne das Gehirn zu beanspruchen? Forscher erkunden das mit Roboter-Experimenten.

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Menschlicher Kopf in Neon-Umriss, darin leichten Formen. Ein Finger tippt ins Zentrum.

(Bild: Skorzewiak/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Hans-Arthur Marsiske
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"Das Gehirn? Das ist eine nützliche Ergänzung zum Nervensystem", sagte Auke Ijspeert von der Eidgenössischen Technische Hochschule Lausanne, auf dem diesjährigen Workshop on Embodied Intelligence. Woraufhin Cosimo Della Santina von der Technischen Universität Delft sich bemüßigt fühlte, noch einen draufzusetzen: "Das Nervensystem wiederum ist eine nützliche Ergänzung zur Körpermechanik." Viele Vorträge hatten sich auf der Veranstaltung mit der Klugheit des Körpers beschäftigt. Der üblicherweise als Hort des Denkens gefeierte Kopf drohte ins Hintertreffen zu geraten.

Die bewusst überspitzten Aussagen unterstreichen, wie sehr sich die über viele Jahrhunderte von Philosophen wie René Descartes postulierte Unterscheidung von Geist und Körper bereits aufgelöst hat. Das heißt nicht, dass sich die beim Workshop on Embodied Intelligence versammelten Forscher gar nicht fürs Gehirn interessieren würden – schließlich gehört es ja irgendwie auch zum Körper. So zählte Workshop-Leiter Fumiya Iida von der Universität Cambridge das Verständnis der Gehirnaktivität im Ruhezustand, etwa bei Tagträumerei, zu den interessanten offenen Fragen des Forschungsfeldes. Und für Kenji Doya vom Okinawa Institute for Science and Technology ist das Gehirn Vorbild für künstliche Agenten, die fürs Lernen ihre eigenen Belohnungsfunktionen und Hyperparameter entwickeln sollen.

Das Verstärkungslernen werde im Gehirn von den Basalganglien kontrolliert, so Doya. Überwachtes Lernen erfolge im Cerebellum (Kleinhirn), während unüberwachtes Lernen in der Großhirnrinde lokalisiert sei. So zumindest die Theorie. Um sie zu überprüfen, und zu verstehen, wie diese verschiedenen Lernprozesse aktiviert und miteinander verbunden werden, nutzt Doya neben bildgebenden Verfahren zur Beobachtung der Hirnaktivität unter anderem Roboterexperimente.

In seinem Cyber Rodent Project mussten Roboter herausfinden, wie sie überleben und sich fortpflanzen können, indem sie Suchstrategien für Batterien entwickelten. Dabei bildeten sie verschiedene Strategien: Die Sammler suchten gezielt nach Batterien, während die Verfolger von deren Erfolg profitierten.

Koh Hosoda von der Universität Osaka dagegen stellt das Denken sprichwörtlich vom Kopf auf die Füße: Er hat in seinem Labor verschiedene Roboterfüße gebaut, um die Bedeutung der Mechanik für sicheres Laufen zu verstehen. Von den 26 Knochen, aus denen der menschliche Fuß besteht, konzentrierte er sich besonders auf das hintere untere Sprunggelenk und das Mittelfußgelenk. So entstand kein Nachbau des menschlichen Fußes, sondern ein Roboterfuß mit lediglich zwei Zehen, der zeigen konnte, wie allein ausgeklügelte Mechanik für den sicheren Kontakt zum Boden sorgt, ohne Nervensystem und Gehirn mit Rechenarbeit zu belasten.

Im Übrigen kann der Körper selbst rechnen. In diese Richtung forscht Kohei Nakajima an der Universität Tokio. Er will die Idee des Reservoir Computing, das sich ursprünglich auf intrinsische Dynamik rückgekoppelter neuronaler Netze stützt, auf physische dynamische Systeme übertragen. Das sei insbesondere für Roboter aus weichen, nachgiebigen Materialien (soft robots) interessant. Anhand eines mit Sensoren bestückten Oktopusarms zeigte Nakajima, wie der Arm aus seiner Form vorangegangene Inputs ableiten kann. "Ein starrer Stab hat diese Fähigkeit nicht", betonte er. Mithilfe nachgiebiger Stoffe könne also der Körper selbst als Computer genutzt werden.

Thomas Speck von der Universität Freiburg brach eine Lanze für die Pflanze: Pflanzen verfügten zwar über kein Gehirn, seien aber in der Lage, Entscheidungen zu treffen sowie miteinander wie auch mit der Umgebung zu interagieren. Das müsse als eine Form von Embodied Intelligence angesehen werden.

Während es bei vielen Experimenten darum geht, das Wesen des Denkens und der Intelligenz zu erkunden, wurden beim Workshop auch praktische Anwendungen vorgestellt. Dana Damian von der Universität Sheffield sprach über weiche Robotik, die über längere Zeit in den menschlichen Körper implantiert werden kann. Solche Geräte, die zum Beispiel das Wachstum von Gewebe unterstützen sollen, müssten hohe Fehlertoleranz haben; selbst bei Teilausfällen müssen sie weiter funktionsfähig bleiben.

Kenji Suzuki von der Universität Tsukuba beschäftigt sich mit Embodied Intelligence im Zusammenhang mit Exoskeletten, Prothesen und anderen Hilfsmitteln für Menschen mit Einschränkungen der Beweglichkeit. Unter anderem hat er das System Qolo entwickelt, das Rollstuhlfahrern ermöglicht, bei Bedarf eine stehende Position einzunehmen, etwa um ein Buch aus einem hohen Regal zu entnehmen oder einen Fahrkartenautomaten zu bedienen. Diese Unterstützung beim Aufstehen und Hinsetzen erfolgt ohne Motorantrieb allein durch die passive Dynamik des Systems. Auch hier steckt die Intelligenz im Körper selbst.

(ds)